Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
verdiente. Was war er ohne sein Lebenswerk? Ein Nichts, ein Kretin, dem Tode geweiht.
Entschlossen stand er auf, sich an den herausgerissenen Schubladen stützend, betrat den Laborraum, warf Bücher und Schriften auf den Boden und übergoss sie mit Spiritus. Helenes Gesicht drängte in sein Bewusstsein, verärgert schüttelte er es ab. Nicht einen Gedanken würde er an sie verschwenden, schon gar nicht den letzten.
Noch während er den mehrflammigen Herd entzündete, dachte er an seinen Sohn Albert, den er auf der anderen Seite zu sehen erwartete. War das Leben jenseits der Welten Chaos oder Ordnung? Bewegung, Prozess, ewige Genesis. Ende der fleischlichen Augen, Sicht auf den Grund über und außerhalb der Natur.
Mit sicheren Händen übergoss er sein Haupt und entzündete es an den Flammen des Herdes. Die Hitze barst in seinem Schädel. In einer einzigen bedeutsamen Sekunde, einem Wimpernschlag gleich, katapultierte sich eine Kraft durch den Körper, die das Universum freigab. Und während sein Geist aus der endlichen Hülle entschwand und nicht bemerken wollte, wie Helene viele Kilometer entfernt verwundert innehielt, erkannte er, dass sein erstgeborener Sohn noch lebte.
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JENA
9. NOVEMBER 1780
Christoph Wilhelm Hufeland befand sich in einem Zustand der Lethargie. Er hätte inzwischen nichts mehr dagegen gehabt, sich seinem Schicksal zu überlassen. Je länger er darüber nachdachte, desto unsinniger erschien es ihm, davonzulaufen.
Nachdem er wieder zu Kräften gekommen war, hatte er versucht, seinem Schwager diesen Standpunkt zu erklären. Er habe lediglich eine Warnung bekommen, die es zu beherzigen galt. Alles, was er tun müsse, war stillzuhalten. Sich von der Last des Wissens zu befreien, indem er es verdrängte, so gut es ging. Doch Ernst Adolph Weber beharrte darauf, dass er abreiste.
Er hätte noch einmal mit Vogt reden sollen. Ihm versichern, dass er die Zeichen verstanden habe und dass man ihn nun in Ruhe lassen solle. Er wollte weiterstudieren. Seinem Vater, dem Leibarzt zu Weimar, zu Ehre gereichen, statt die vorgesehene Laufbahn zu unterbrechen.
Je länger er sich mit dem Gedanken beschäftigt hatte, nach Weimar zurückzukehren, desto absurder erschien es ihm, einem Schicksal entkommen zu wollen, das ihn doch ohnehin in Gestalt seines Vaters einholen würde. Womit mochte dieser ihn für sein Versagen bestrafen?
Hufeland verschränkte die Arme vor der Brust und sah zum Himmel, an dem der Wind dunkle Wolken vor sich hertrieb. Ein Reiter hatte die nahende Postkutsche angekündigt, und sie waren rasch zur Station gelaufen. Das Ausharren war ihm ebenso unerträglich wie die Ungewissheit, was ihn in Weimar wohl erwarten würde. Seine Schwester schien seine Unruhe zu bemerken. Sanft strich sie ihm über den Arm. »Es ist besser so«, sagte sie und wich zurück, als er sie mit zusammengezogenen Brauen anstarrte.
|177| Aber sie hatte ja recht. Es war gewiss besser so.
Sie hatten beschlossen, dass Hannchen Hufeland nach Weimar begleiten sollte. Weber hatte darauf bestanden. Es sei ihm wohler, sie dort zu wissen. Er selbst würde zum Weihnachtsfest nachkommen, und dann müsse man weitersehen.
Nun standen beide eng beieinander, die Hände verschlungen, verstohlene Küsse tauschend.
»Ich werde dir jeden Tag schreiben«, versprach Weber.
»Ja«, flüsterte Hannchen. »Tu das, sonst weiß ich nicht, wie ich die Zeit ohne dich überstehen soll.«
»Nur wenige Wochen«, sagte er sanft, »dann sind wir wieder beisammen. Und dann ist es auch nicht mehr lange, das neue Leben zu begrüßen, das in deinem Bauch heranwächst.«
Hufeland wandte sich ab und schloss seine trüben Gefühle im Herzen ein. Endlich hörte er ein entferntes Hufeklappern. Am Ende der Straße erschien die Postkutsche, die ihren Weg nach kurzem Aufenthalt weiter nach Weimar nehmen würde. In das Geräusch heranpreschender Hufe mischte sich das Quietschen schlecht geölter Achsen. Der Postillion peitschte die Pferde über das Pflaster, aufrecht und mit stolz gerecktem Kinn, trieb die Wartenden auseinander, bis er die Kutsche kurz vor der Poststation in einem halsbrecherischen Manöver zum Stehen brachte.
Die Tür der Kutsche öffnete sich. Gleichgültig ließ Hufeland den Blick über die Reisenden schweifen, die dem Wagen entstiegen. Eine junge Frau fiel ihm ins Auge, sie war beinahe noch ein Kind. Hochgewachsen, mit flachsblondem Haar und vollen Lippen. Der magere Körper mit den zarten Rundungen steckte in einem zu kurz
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