Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
in einer langen Reihe nachlässig gehäufter Erhebungen mit schlichten Holzkreuzen. Starr sah Helene auf den Erdhaufen, dessen Ränder sich im Regen verwaschen hatten. Es war nicht richtig, dass er hier lag, der fröhliche und großherzige Bruder, den sie so lebendig vor Augen hatte. Helene schüttelte den Kopf. Das Grab sah einsam aus und verlassen. Kalt. Nackt.
Sie stellte ihre Tasche ab, hob den Rocksaum und kniete sich auf den schlammigen Boden, bemüht, das saubere Kleid nicht allzu sehr zu beschmutzen. Dann faltete sie die Hände, während Weber sich pietätvoll in Richtung Kirche entfernte, um dort auf sie zu warten.
Nach einer guten Stunde, die Kirchturmuhr schlug vier, erhob sie sich. Ihre Beine schmerzten, sie trat auf der Stelle, bis die Kälte aus den Gliedern wich. Das Gefühl abgrundtiefer Traurigkeit mischte sich nun auf unpassende Weise mit unbändigem Hunger.
Helene drehte sich zur Kirche und sah Weber im Gespräch mit einem schmalen, auffallend großen Mann mit gekrümmtem Rücken, der beharrlich auf ihn einredete und sich rasch entfernte, als sie sich näherte. Ihr fiel auf, dass das Gesicht des Theologieprofessors plötzlich stark gerötet war.
»Ist alles in Ordnung?«
Er sah sie an, doch sein Blick war versteinert. »Doch, sicher«, murmelte er.
»Ich würde gern eine Kerze für meinen Bruder entzünden. Und dann etwas essen. Kennen Sie ein erschwingliches Gasthaus?«
|183| Endlich kam Leben in ihn. »Ein Gasthaus? Ja, ich bringe Sie zu einem Haus, das auch Unterkunft zu einem guten Preis bietet. Die Zimmer sind nicht groß, aber sauber, was in dieser Stadt keine Selbstverständlichkeit ist.« Er blickte sich rasch um, sah dem großen Mann nach, doch der war bereits verschwunden.
Helene schaute ihn schweigend an. Hatte sie wirklich erwartet, sie könne bei ihm bleiben, einem gänzlich Fremden? Natürlich würde es den guten Ruf des Theologieprofessors nachhaltig beschädigen, wenn er noch am selben Tage, an dem die Ehefrau aus der Stadt reist, ein junges Mädchen ins Haus lassen würde. Aber wo sollte sie hin? Die Reise hatte alles verschlungen, was sie mit sich trug. Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr gegessen, nun besaß sie nicht mehr als zehn Groschen, gerade genug für ein ausgiebiges Essen.
Mittlerweile hatten sie den Friedhof hinter sich gelassen und waren zur Stadtmauer gelangt. Noch vor dem Tor bog Weber ab und folgte einem Weg, der an Gärten mit kahlen Bäumen und gestutzten Stauden und einem schmalen See entlangführte. In der Ferne zeichnete sich die Saale als dunkles Band vor den Konturen der die Stadt umschließenden Berge ab. Helene dachte, dass sich die gezähmte Natur, einem botanischen Garten gleich, im Sommer wie ein Paradies ausnehmen mochte, nun aber versank sie im Grau der herabhängenden Wolken.
»Ich habe nicht genügend Geld für eine Unterkunft«, sagte sie schließlich, als sie sich einem Sandplatz näherten, der von Gasthöfen umrahmt wurde. »Vielleicht können Sie mich an ein Haus empfehlen, das mich gegen Arbeit aufnimmt?«
Er blieb stehen. »Ich werde Ihnen etwas borgen. Sind zehn Taler ausreichend?«
»Zehn Taler? Nein, das ist viel zu großzügig, wie soll ich Ihnen das zurückzahlen! Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie. Doch er duldete keinen Widerspruch, und so beließ sie es dabei.
Die Unterkunft war groß und, obwohl sie wohl schon bessere Tage gesehen hatte, einladend und sauber, und Weber handelte mit dem Wirt einen guten Preis für Kost und Logis aus. Mit den Worten, |184| er wünsche ihr alles Gute, ließ er sie allein und verschwand durch das südliche Tor in den Gassen der Stadt, auf die nun der Regen prasselte, als hätte der Himmel sämtliche Schleusen geöffnet. Erst später fiel Helene auf, dass Weber nach der Begegnung mit dem großen Mann verändert gewesen war, beunruhigt. Doch in jenem Moment, als er in größter Eile das Gasthaus verließ, ohne von einem Wiedersehen zu sprechen, war sie, von ihrer Trauer erfüllt, zu einem vernünftigen Gedanken nicht in der Lage gewesen.
Stattdessen saß sie nun in der gut gefüllten Gaststube vor einem Teller mit Eierkuchen. Es war unruhig, ein Kommen und Gehen. Am Nachbartisch hockten junge Burschen und spielten Karten, starrten ab und an verstohlen herüber, um sofort den Blick zu senken, wenn sie sich dabei ertappt fühlten.
Eine Bedienung lief zwischen den Tischen hin und her, schleppte Teller mit Fleisch und Kohl und Bier in großen Gläsern herbei. Lampen wurden entzündet, die
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