Die Alchemie der Naehe
das Unterhemd und dann den BH aus. Sie kehrte dir mehr oder weniger den Rücken zu, aber als sie sich vorbeugte, um nach dem T-Shirt zu greifen, konntest du die Form und die beeindruckende Symmetrie ihrer Brüste erahnen. Du bliebst reglos hinter der verdammtem Tür stehen, wohl wissend, dass das, was jetzt in dir vorging und auch weiterhin vorgehen würde, keinerlei Berechtigung besaà und auch nie welche haben würde. Doch obwohl du ganz genau wusstest, dass du eigentlich weiter in Vanity Fair blättern und deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken solltest, bliebst du wie angewurzelt stehen. Im Nu bist du zu einem Voyeur geworden, hast dich nach ihr verzehrt, was dich lebendig werden lieà und so empfindlich wie noch nie. Doch gleichzeitig schwoll auch der Strom des Abscheus und des Selbstekels an, der verzweifelt versuchte, dich von den Untiefen des Skandals fortzureiÃen, in die du dich verstrickt hattest.
Du durftest und wolltest diese Gefühle nicht haben, eine Frau zu begehren, in deren Adern dasselbe Blut floss wie in deinen. So etwas war sogar bei den letzten noch existierenden Kannibalenstämmen verboten und wurde von ihnen sanktioniert.
Und so kam es, dass sich zu dem kleinen Geppetto aus Verona, der ganz bestimmt existierte, und dem Lakai, der ständig Gefahr lief, von einer hartnäckigen Schwester manipuliert zu werden, noch ein dritter, deutlich gefährlicherer Gast gesellte: ein archaisches, ungebildetes Geschöpf, das gleichzeitig nicht mehr war als ein bemitleidenswerter Körper, der beinahe explodierte vor lauter Begehren. Ein Geschöpf, das zu solch monströsen Verbrechen in der Lage war, dass es in dieser Welt keine Daseinsberechtigung hatte. Denn auf einen so widerlichen Typen, auf einen derartigen Gesetzesbrecher und Frevler würde die ganze Welt Jagd machen.
Das vorsorgliche SchlieÃen von Schubladen oder ein anderes Geräusch aus dem Zimmer eurer Mutter lieà dich zusammenzucken und zeigte dir einen Ausweg aus deinem traurigen Kerker auf. Geppetto schlug ihn sofort ein, sodass du dich in die Küche retten konntest. Dort hast du mit zitternden Fingern ein Glas aus der Anrichte genommen, den Kühlschrank geöffnet und eine kleine Flasche Perrier herausgenommen. Hastig hast du dein randvolles Glas hinuntergestürzt, wobei du dein Lacoste-Hemd vollgetropft, dich mit geschlossenen Augen an die Kühlschranktür gelehnt und dir nichts als Ruhe gewünscht hast.
Als du dich wieder einigermaÃen gesammelt hattest, hast du das Fenster aufgemacht, dir eine Camel light angesteckt und die halb offene Tür verflucht. Endlich warst du wieder bei Sinnen. Du wusstest, was passiert war, und warst in der Lage, dir vorzunehmen, so etwas nie mehr zu wiederholen.
Die vielen Personen in deinem Kopf â die gab es doch gar nicht wirklich! Geppetto, der bedrängte Lakai, die primitive Bestie: ScheiÃe, wer waren die überhaupt? Wer hatte die geschickt? Ja, wer bezahlte die eigentlich?
Denn eines stand definitiv fest: Wenn du zulieÃt, dass sie sich weiter ausbreiteten, würden sie dich lange vor Selvaggia und der wirklichen Welt bei lebendigem Leib verschlingen â diese Schreckgespenster und Nonsensgestalten wie Alice im Wunderland, Kerzendocht und Däumling.
Und das durftest du, ein junger Mann aus guter, aber dysfunktionaler Familie, ein begeisterter Schwimmer und folgsamer Schüler, natürlich auf keinen Fall dulden.
21
Hin und wieder kam es vor, dass sie deine Einladung ausschlug. Oder sie willigte nur widerwillig ein und lieà es dich spüren, indem sie kleine, vergiftete Spitzen austeilte. Natürlich warst du jedes Mal gekränkt, das weiÃt du. Aber bei eurer nächsten Verabredung war sie dann wieder dermaÃen reizend, dass du ihr jede Laune nachsahst. In der festen Ãberzeugung, dass du sie ohnehin nie verstehen würdest, tatst du das Nächstliegende: Du hörtest auf, dich zu fragen, wer sie eigentlich wirklich war.
Eines Abends hattet ihr bewusst auf gesunde Ernährung ver zichtet und in einem Lokal im Zentrum Pizza und Eis gegessen.
»Du willst nur, dass ich fett werde«, beschwerte sie sich zu deiner groÃen Belustigung und steckte den Löffel zwischen Schlagsahne und die drei Geschmacksrichtungen des riesigen Eisbechers. Ihr saÃt euch gegenüber und saht euch irgendwann in die Augen, wohl wissend, dass das ein ganz besonderer Abend war. Ihr hattet über die
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