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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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üblichen Themen geredet: über die letzten Umzugsvorbereitungen, über Filme (vor allem über Moon , einen höchst seltsamen Science-Fiction-Film, in dem es unter anderem um künstliche Zwillinge ging) und alte Grunge-songs.
    Dann kam das Eis. Minutenlang war jedes Gespräch unmög lich, so überwältigt wart ihr von euren Geschmackspapillen.
    Erst nach einer ganzen Weile wandte sich Selvaggia wieder an dich in dem typisch ironischen Tonfall, den sie immer benutzte, wenn sie dir ein Kompliment machte: »Es ist wirklich unglaublich, Johnny, aber bisher habe ich mit niemanden so gut reden können wie mit dir. Nie hätte ich gedacht, dass mich ein Mann so gut verstehen kann.«
    Â»Ich verstehe dich eben«, sagtest du. »Aber nur, weil wir im selben Boot sitzen und es mir manchmal genauso geht wie dir.«
    Â»Ja«, sagte sie und nickte. »Anscheinend haben auch Män ner bisweilen Gefühle.« Sie machte natürlich mal wieder einen auf zynisch.
    Â»Ach komm, bitte verkneif dir Banalitäten wie die, wir Männer wären emotional in der Steinzeit stecken geblieben. Wenn du dich auch nur ein bisschen anstrengen würdest, würdest du sehen, dass das nicht stimmt. Im Grunde bist du die Herzlose«, scherztest du gelassen, wobei in deinem Witz eine Menge Wahrheit steckte, »indem du dich an drei von vier Abenden weigerst, mit mir auszugehen, obwohl mich das verletzt.«
    Â»Keine Sorge, ich habe durchaus ein Herz«, sagte sie. »Da kommt man nur nicht so leicht ran, und dir ist es so schnell gelungen, dass mir angst und bange wurde.«
    Sofort strahltest du sie an und gabst ihr einen Kuss auf die Wange, den sie nicht zurückwies – ganz im Gegenteil, sie beugte sich sogar vor, um sich ein zweites Mal küssen zu lassen. Nein, ihr saht wirklich nicht aus wie Bruder und Schwester, sondern wie ein verliebtes Paar, das seinen ersten Jahrestag feiert. Wie ein glückliches Paar voller Zukunftspläne. Und ihr wart auch ein Paar, wenngleich nicht so, wie du dir das gewünscht hättest. Und auf den zweiten Blick wart ihr überhaupt nicht glücklich. Zu Hause fielen die Masken: Wenn ihr abends allein wart, klagtet ihr euch manchmal euer Leid. Selvaggia erzählte dir von ihrer Einsamkeit, von den Problemen mit eurer Mutter, von früheren Beziehungen und Nichtbeziehungen, von Männern, die sie gehabt hatte, ohne sie wirklich zu wollen, und denen sie sich ohne jeden Stolz an den Hals geworfen hatte.
    Auch du erzähltest von deiner Einsamkeit, von deinen Proble men und davon, wie es gewesen war, ohne Mutter aufzuwachsen. Aber noch mehr von deinen Zukunftsängsten und Zukunftsträumen, und seien sie auch noch so unwahrscheinlich. Ihr machtet euch gegenseitig Mut, indem ihr euch Verständnis entgegenbrachtet, euch in den jeweils anderen Zwilling hineinversetztet. Anschließend wart ihr immer ganz erschöpft von dem Versuch, die Gespräche und die sich daraus ergebenden, eher deprimierenden Schlussfolgerungen zu verarbeiten. Dann war es jedes Mal besonders schmerzhaft, sich in dem Wissen zu trennen, dass jeder die Geheimnisse des anderen hütete. Am liebsten hättet ihr ewig weitergeredet, mit euren Gesprächen die Hoffnung auf eine höhere Bewusstseinsebene genährt.
    Manchmal tatet ihr so, als wenn nichts wäre, und vermiedet traurige Themen, holtet sie nicht aus dem staubigen Keller eures Bewusstseins. Trotzdem wusstet ihr, dass es sie gab, dass sie euch vielleicht sogar für immer geprägt und euch zum Spiegel des jeweils anderen gemacht hatten.
    Es war kurz nach eins, als ihr zum Haus eures Vaters lieft. Erneut wolltet ihr im Zelt übernachten: Eure Eltern waren wieder mal nicht da, so wie sie im Grunde nie für euch dagewesen waren.
    Ihr kamt am Ponte Scaligero vorbei, der um diese Uhrzeit menschenleer war. Mitten auf der Brücke blieb Selvaggia stehen, als schwebe sie zwischen den beiden Ufern der Etsch. Sie trat an die Brüstung und starrte hinunter auf den dunklen Fluss, woraufhin du es ihr gleichtatst. Gemeinsam bewundertet ihr den Nachthimmel, die Sterne, ihren Widerschein auf dem Wasser. Mit aufgestützten Armen versank sie erneut in den Anblick des tiefen Wassers, als träfe sie eine wichtige Entscheidung.
    Â»Ist irgendwas?«, fragtest du wieder mal schleimig.
    Sie schüttelte den Kopf, doch du merktest, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. »Nein, es ist nichts«, sagte sie

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