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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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dem Küchentisch zogst du noch eine weitere, und gemeinsam mit Selvaggia gingst du die Treppe zu euren Zimmern hoch.
    Â»Gute Nacht«, hast du ihr in neutralem Ton gewünscht und sie kaum eines Blickes gewürdigt, bevor du dich in deinem Zimmer eingeschlossen hast, um diesen katastrophalen Tag zu beenden.
    Du weißt es genau: Plötzlich bist du hochgeschreckt und hast einen Schrei ausgestoßen. Du hast gekeucht, und dein Herz hat wie wild geklopft … Auf einmal war dein Bett eine einzige Schweißlache. Im Halbdunkel hast du dich umgesehen, nach Selvaggia gesucht, doch Gott sei dank war sie nicht da. Sie war nicht da! Da hast du geglaubt, dich wieder beruhigen zu kön nen, weil du genau wie viele andere nur aus einem tiefen Traum hochgeschreckt warst. Und ein Traum hatte zum Glück nichts zu bedeuten. Welche Schuld konnte man schon im Traum auf sich laden, welch mysteriöses Tribunal sollte jemals zusammentreten, um über einen Traum zu urteilen? Fast hättest du einen Herzinfarkt bekommen, als dir klar wurde, dass das zwar nur ein Traum gewesen sein mochte, aber deine Erregung real war: Nachdem du hastig die Nachttischlampe angemacht und das Bett verlassen hattest, um genauer nachzusehen, konn test du die Folgen auf dem Laken begutachten.
    Du hast dich auf die Bettkante gesetzt beziehungsweise darauf gekauert – die Ellbogen auf den Knien, den Kopf zwischen den Händen. Du hattest sie im Traum so sehr begehrt; so wie in Malcesine und damals, als du sie zum ersten Mal nur von hinten halb nackt in ihrem Zimmer gesehen hattest – so wie vor zwei Stunden auf der Brücke und wer weiß wie oft noch … Armer Giovanni, du konntest einfach nicht fassen, dass ausgerechnet dir so etwas passieren musste, nicht wahr? Was hattest du dir zuschulden kommen lassen? Welches furchtbare Unrecht, das wem zugefügt worden war, sollte damit gesühnt werden?
    Warum eilte dir niemand zur Hilfe? Welcher Verbrechen konnte sich ein Schüler aus Verona, der gerne Sport trieb und sich bisher nichts weiter gewünscht hatte als Rückenschwimmen, schon schuldig gemacht haben? »Ich muss verrückt sein«, hast du dir gesagt. »Giovanni«, ließ sich eine Stimme aus dem dunkelsten Winkel deines Herzens vernehmen. »Du bist dermaßen arm dran, dass du aus diesem Schlamassel nicht mehr lebend rauskommst!«
    Es war eine Nacht der blinden Zeiger, und deine Schlaflosigkeit stand unter einem Dornenbogen, denn es gab keinerlei Entschuldigung. Und weil du verrückt warst, weil du ganz genau wusstest, was du für deine Schwester empfandst, konntest du dir nicht länger was vormachen und dir einbilden, du bräuchtest das nur mit anderen Augen zu sehen, um deine Angst zu besänftigen.
    Du hattest dich bereits viel zu weit vorgewagt, deine Fantasie hatte die Grenze bei Weitem überschritten, bis zu der noch alles akzeptabel war.
    Vielleicht befand sich jetzt bloß noch dein Körper diesseits der Grenze. Lediglich dein Körper, lieber Giovanni, hatte sie noch nicht überschritten. Zum weit geöffneten Fenster kam etwas feuchtfrische Luft herein, und du, der du dich in Todes angst von der Bettkante erhobst, hättest am liebsten den gleich mütigen Mond befragt. Aber den fernen Trabanten konnte man nichts fragen, nur dich selbst und Selvaggia, der es ähnlich erging wie dir.
    Draußen machte die wenig befahrene Straße, deren Umrisse du hinter dem Baumvorhang bloß erahnen konntest, einen tristen Eindruck; du sahst auf die Uhr, um zu schauen, wie spät es war – als könnte dich das auch nur eine Sekunde lang retten. Selbst wenn es noch früh wäre, würde es dir trotzdem nicht gelingen einzuschlafen. Wäre es dagegen bereits Zeit zum Aufstehen, würdest du nie den Mut finden, dein Zimmer zu verlassen, um zum Frühstück hinunterzugehen.
    Aber es war halb fünf.
    Also bist du am Fenster stehen geblieben, du armer Kerl, hast dich vor Sehnsucht verzehrt und darum gebetet, die Morgenluft möge deine ungerechte Strafe wenigstens nicht noch verschärfen.
    Nach einigen Minuten fandst du dich plötzlich vor dem Gästezimmer wieder, hinter dessen geschlossener Tür deine Schwester schlief: Diese ungeheuerliche Tatsache wurde dir erst so richtig bewusst, als die geschlossene Tür nur noch eine Armlänge von dir entfernt war. Daraufhin starrtest du auf deine Hand, die die Türklinke umklammerte, und sahst dann

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