Die Alchemie der Naehe
durch den winzigen Spalt, dass Selvaggia auf der Seite schlief, das Gesicht dem halb offenen Fenster zugewandt, dessen blütenweiÃe Vorhänge im Wind zitterten. Daraufhin tratst du einen Schritt vor und decktest ihre Schultern zu. Sie trug nichts als Unterwäsche, und du zwangst dich, nicht hinzusehen: In diesem Moment hast du nichts als den Beschützerinstinkt eines anständigen Bruders gespürt.
Du hast dich im Dunkeln auf einen Stuhl gesetzt und ihr eine Weile beim Schlafen zugesehen. Hin und wieder seufzte sie laut auf und bewegte sich ein bisschen. Sie war jetzt so verletzlich, dass sie dir auf keinen Fall wehtun konnte wie tagsüber.
Irgendwann bist du nach unten gegangen und in Gesellschaft deiner gequälten Seele zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her gelaufen, bis es Tag wurde.
23
Es war kurz nach neun, als du im ersten Stock Schritte gehört hast. Kaum dämmerte dir, dass sie wach war â bereit, dir gegenüberzutreten, was man von dir nicht gerade behaupten konnte â, wurdest du nervös. Du hast eine Camel light aus der Zigarettenpackung gezogen und sie angesteckt, um dich ein wenig zu beruhigen.
Du hast gehört, wie sie an deine Tür klopfte. Sie suchte nach dir!
Am liebsten wärst du mit Lichtgeschwindigkeit geflohen, nur um ihr nicht unter die Augen treten zu müssen, aber wo hättest du dich verstecken können? AuÃerdem wolltest du nicht feige sein. Deshalb hast du einfach auf dem der Wohnzimmertür abgewandten Sofa gewartet: die Beine übereinandergeschlagen und die Zigarette zwischen den Fingern. Hinter dir hast du ihre Schritte gehört: Hätte sie ein Messer dabeigehabt, um damit auf dich loszugehen, hättest du auch nicht mehr Angst gehabt. Sie sank mehr oder weniger neben dich und trug diesen seidenen weiÃen Morgenmantel, der sie unglaublich sinnlich wirken lieÃ.
Du hast es vermieden, sie anzusehen, weil du wusstest, dass sich unter diesem Morgenmantel nur ein knappes Hemdchen und ein ebenso knappes Höschen verbargen.
Widerwillig hast du bemerkt, dass dieser verdammte Morgenmantel vorn nur unzureichend geschlossen war und die Konturen einer Brust zu erkennen waren. Daraufhin hast du dich auf eine Reihe von Fotos von Mario Dondero konzentriert, die perfekt gerahmt an der gegenüberliegenden Wand hingen. Zunächst redetet ihr kein Wort. Dann drehte sie sich zu dir um, legte dir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Das mit gestern Abend tut mir wahnsinnig leid, Johnny. Es ist alles meine Schuld. Ich habe ScheiÃe gebaut.« Sie schüttelte untröstlich den Kopf und lieà vermutlich noch einmal alles Revue passieren. Und obwohl du sie am liebsten umgehend getröstet hättest, warst du so grausam zu schweigen, um auszutesten, wie weit ihr Bedauern wirklich ging.
»Glaubst du mir nicht?«, fragte sie besorgt.
Da zogst du sie überwältigt von Zärtlichkeit in eine Umarmung: ihr Mund dicht an deinem Hals, deine Arme um ihre Taille. Selvaggia seufzte und wirkte schon etwas erleichtert.
»Es ist nichts passiert«, hast du geflüstert und ihr extrem liebevoll übers Gesicht gestrichen. »Wir haben schlieÃlich nie manden umgebracht.« Sie drückte dir einen Kuss auf den Hals, so als wollte sie sich erneut entschuldigen. Du entschuldigtest dich, indem du teure Ketten für fünfzig Euro kauftest, und sie mit diesen unbezahlbaren Küssen, die namenloses Glück schenkten.
Der Spuk deiner qualvollen Nacht löste sich in Luft auf, wurde durch eure versöhnliche Umarmung vor die Tür gesetzt. Ihr schwiegt; sie hatte dir noch nicht verraten, ob sie eingewilligt hatte, weil sie Angst vor dem Alleinsein verspürte, oder weil sie dir ihre Zuneigung zeigen wollte. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr, weil es nur noch darauf ankam, das Geschehene zu akzeptieren und einen Schlussstrich darunter zu ziehen.
Natürlich beinhaltete das nicht, sie noch einmal genauso heftig zu küssen wie am Vorabend, ja vielleicht sogar noch heftiger. Doch genau das passierte gerade. Im Nu hattet ihr eure guten Vorsätze über Bord geworfen, einfach darauf gepfiffen. Du wusstest nicht, ob ihr eigentlich klar war, dass ihr gerade ein Liebespaar wurdet, aber auch dieser Gedanke löste sich sofort in Luft auf. Und während sie mit halb geschlossenen Augen und hinreiÃend zerzausten Haaren, die ihr offen auf die Schultern fielen, ihre Zunge zwischen deine Lippen schob
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