Die Alchemie der Naehe
bekamst und halb tot warst, hast du das Becken verlassen. Du hast dich völlig kaputt gefühlt, weiÃt du noch?
Wenn du dich nach dem Duschen mit trocken gerubbelten Haaren von Badoglio verabschiedet hast und schnell dem Ausgang zugestrebt bist, fandst du sie immer am selben Ort vor: Sie saà auf der Ziegelmauer, die von einem rostfarbenem Gitter gekrönt wurde.
An diesem Tag kam sie, kaum dass sie dich entdeckt hatte, strahlend auf dich zugelaufen. Ihr habt euch inniglich umarmt und euch einen Kuss auf den Mund gegeben, euch mit der Dringlichkeit eines Paares, das sich erst nach Jahren der Deportation wiedersieht, glühende Liebesschwüre ins Ohr geflüstert. Während du sie auf den Mund küsstest, sahst du erst im letzten Moment aus dem Augenwinkel, dass er da war, der allgegenwärtige Badoglio. Unter dem Vorwand, eine rauchen zu gehen, hatte er das Gebäude verlassen. Er glotzte euch an, dieser Gangster in Fallschirmseide, denn leider kümmerte sich keiner gern um seine eigenen Angelegenheiten â erst recht nicht, wenn es um Liebe ging. Sofort drehtest du Selvaggia um, während du sie küsstest, um deine Schwester den neugierigen Blicken dieses Störenfrieds zu entziehen. Natürlich konntest du dich schlecht als jemand anders ausgeben â der Gestörte mit der Zigarette kannte dich. Trotzdem durftest du auf keinen Fall zulassen, dass Selvaggias guter Ruf beschädigt wurde, bevor sie ihn überhaupt aufbauen konnte: Solange niemand wusste, wer sie war, fühltest du dich ganz besonders verpflichtet, sie vor den neugierigen Blicken der anderen zu schützen.
»Wozu die Eile?«, fragte sie verständnislos, als ihr Hand in Hand das Schwimmbadgelände verlieÃt.
»Da hinten steht mein Trainer, er hat uns beobachtet«, erklärtest du mit erstickter Stimme. »Wir müssen besser aufpassen, mein Schatz.«
Ihr nutztet jeden noch so absurden Moment â drauÃen wie drinnen. Ihr versuchtet nach dem Abendessen so oft wie möglich auszugehen, denn in den Parks konntet ihr Zärtlichkeiten austauschen. Und auf dem Ponte Scaligero, wo euch im Schutz der Dunkelheit niemand erkennen konnte.
Die kaum beleuchteten Orte machten ihr Angst, obwohl sie wusste, dass du da warst, um sie zu beschützten. Doch es genügte, ihr die Gefahr auszureden.
Zu Hause wartetet ihr jedes Mal, bis eure Eltern im Bett waren, bevor Selvaggia in dein Zimmer schlüpfte oder du ganz vorsichtig in ihres. Dort habt ihr geredet, ein wenig ferngeschaut, Coca-Cola getrunken und Kekse gegessen, bis ihr todmüde wart.
Manchmal habt ihr euch etwas anvertraut. Und manchmal habt ihr euch auch bloà umarmt, euch ausgiebig geküsst und euch dabei endlos lang in die Augen geschaut.
Am Schönsten war es, wenn Papa den ganzen Tag arbeitete und eure Mutter Dienst hatte. Ihr lieÃt durchblicken, dass ihr mit Freunden von dir einen Ausflug machen würdet, aber das stimmte nicht. Denn kaum war eure Mutter fort, habt ihr im Bett gefrühstückt, stundenlang eng aneinandergekuschelt zwi schen den Laken gelegen und herumgealbert oder aber langsam und träge wie zu Beginn der Schöpfung das Haus verlassen.
Noch öfter beschlosst ihr allerdings, zu Hause zu bleiben, so auch an diesem vermaledeiten Vormittag. SchlieÃlich war Selvaggias Bett superbequem. Ab und zu hast du sie allerdings auch ganz gern in dein Zimmer mit der eins vierzig breiten Gefängnispritsche eingeladen, wo ihr euch verhängnisvoll eng aneinanderschmiegen musstet.
Na ja, an diesem Morgen warst du zu ihr ins Zimmer gegangen, und ihr hattet lange geschlafen. Als ihr endlich wach wart, versuchtet ihr, so schnell wie möglich etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Nachdem Selvaggia die Küche nach Essbarem abgesucht hatte, machte sie den frischesten Obstsalat überhaupt. Wie du weiÃt, war es herrlich, sich zum Frühstück wieder ins Bett zu verkriechen. Sie konnte gar nicht schnell genug kauen, so viel hatte sie dir zu sagen. Du hörtest ihr verzückt zu und knabbertest an deinem Obst: An diesem Tag schien sie dermaÃen mitteilsam zu sein, dass es ein Verbrechen gewesen wäre, sie zu unterbrechen.
Da ihr wusstet, dass eure Mutter nicht vor zwanzig vor zwei zurückkehren würde, standet ihr erst gegen Mittag auf, streiftet durchs Haus ⦠und beeiltet euch ein wenig. Weil du als Erster angezogen warst, gingst du hinunter in die Küche und räumtest
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