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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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und setzte nach dem ersten Schrecken ein Lächeln auf. »Habt ihr Lust mitzukommen?«
    Ihr saht euch an: Ihr wolltet allein sein, und das bedeutete: Entweder ihr verließt das Haus oder sie.
    Â»Muss das wirklich sein?«, fragte Selvaggia flehend.
    Â»Wenn ihr nicht wollt oder was Besseres vorhabt, nein«, sagte eure Mutter. »Ich frage nur, weil ich mich über ein bisschen Gesellschaft freuen würde.«
    Â»Dann lieber nicht«, beschied Selvaggia sie. »Wir bleiben hier. Vielleicht gehen wir später noch weg.«
    Eure Mutter nickte und blieb auf der Schwelle stehen. »Ich weiß selbst nicht mal genau, ob ich wirklich vor die Tür will«, fuhr sie fort. »Ich kann das auch morgen erledigen.«
    Na gut, anscheinend hatte sie beschlossen, euch einen Strich durch die Rechnung zu machen, und das passte dir ganz und gar nicht: »Wenn es dringend ist, solltest du gehen«, sagtest du. Und an Selvaggia gewandt: »Wir beide kommen auch al leine klar, stimmt’s?« Sie nickte lächelnd und drückte dir einen Kuss auf die Wange – und das in Anwesenheit eurer Mutter, genau wie vorhin als du ihr mit diesem Wandtattoo geholfen hattest!
    Â»Na gut«, gab sich das fünfte Rad am Wagen geschlagen und musterte euch eindringlich. »Ich hab schon verstanden. Ich tue, was ich tun muss … Aber erst morgen.«
    Und während du dich schwer zusammenreißen musstest, ihr keinen vernichtenden Blick zuzuwerfen, sah sie euch strotzend vor dümmlicher Zärtlichkeit an: »Ich habe wirklich zwei fantastische Kinder«, verkündete sie stolz, woraufhin ihr ein Dauer lächen aufsetztet.
    Â»Und wie ihr an inander hängt«, fügte sie noch leise seuf zend hinzu, bevor sie sich wieder ins Erdgeschoss beamte. Aber irgendwie hatten diese Worte in deinen Ohren etwas Drohendes. Denn insgeheim wusstest du jetzt, dass eure Mutter Verdacht geschöpft hatte.
    Ihr lerntet, euch zu beherrschen: Wenn ihr von nun an überschwängliche Zärtlichkeiten tauschtet, saht ihr euch vorher immer zuerst um. Auch wenn ihr dicht nebeneinander auf dem Sofa saßt, umarmtet ihr euch nicht mehr vor euren Eltern; Küsse waren ein für alle Mal verboten – auch die ganz unschuldigen und doch schamlosen auf die Wange: Denn gerade weil ihr euch schuldig machtet, wolltet ihr keinen Verdacht erregen. Deshalb wies Selvaggia jeden deiner Versuche, dich ihr zu nähern, sie zu berühren und sie zu küssen, zurück. Doch es gab auch Tage, an denen sie selbst deine Nähe suchte, und dann musstet ihr euch ziemlich zusammenreißen. Nur wenn ihr ausgingt, hattet ihr keine Hemmungen, weil euch in der Regel niemand kannte oder zumindest sie nicht – schließlich war sie erst vor Kurzem hergezogen.
    Weißt du noch? Nicht einmal deine engsten Freunde wussten, dass es sie überhaupt gab. Immer wenn du sie trafst, zogen sie dich auf und sagten, dass du wohl wegen eines Mädchens keine Zeit mehr für sie hättest. Nie im Leben wären sie auf die Idee gekommen, dass dieses Mädchen deine Schwester war.
    Daher gestattetet ihr euch beim Ausgehen mehr Freiheiten. Ihr lieft Hand in Hand oder Arm in Arm, ja, küsstet euch so gar ohne jede Zurückhaltung auf die Wange, auf den Mund, ohne euch darum zu kümmern, ob euch jemand dabei zusah oder nicht. Wenn ihr ausgingt, lebtet ihr euer Bedürfnis nach intensivem Körperkontakt aus – ausleben, welch furchtbares Wort! –, woraufhin ihr zufrieden nach Hause zurückkehren und weitere gefährliche Annäherungen vermeiden konntet.
    Das Misstrauen eurer Mutter, falls es denn je existiert hatte, legte sich schnell, und diese simple, unbestreitbare Erkenntnis ließ Selvaggia und dich aufatmen.

26
    So lange, bis ihr feststelltet, dass Zärtlichkeitsausbrüche in der Öffentlichkeit auch keine Lösung waren.
    Eines Tages holte dich Selvaggia vom Schwimmbad ab. Inzwischen hatte sie es sich angewöhnt, dir beim Training zuzuschauen. Manchmal hast du ihre Anwesenheit sofort bemerkt, manchmal auch nicht: Aber wenn du wusstest, dass sie da war, bist du mit Leib und Seele geschwommen, um ihr zu zeigen, was du draufhattest. Dann hast du dich so sehr gequält, dass sich dein Trainer, Badoglio der Schreckliche, gezwungen sah, dich mit einem vorsichtigen, dabei bestimmten »Langsam, Giovanni!« zu ermahnen. Doch du hast nicht auf ihn gehört. Erst wenn du kaum noch Luft

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