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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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einen Rolli trug und wärmer angezogen war als du, kam es dir vor, als fröstelte sie wie du.
    Merkwürdig war es schon, dass sie das Bedürfnis hatte, mitten in der Nacht rauszugehen. Auf den Straßen herrschte so gut wie kein Verkehr. Nur ein Tross aus glänzenden, schlafenden Autohecks, der die baumbestandene Straße säumte, leistete euch Gesellschaft.
    Selvaggia lief eine Weile vor dir her, vielleicht eine Viertel stunde lang, bis sie auf dem Ponte Scaligero stehen blieb. Anscheinend wollte sie auf den Fluss schauen, der unter dem alten steinernen Bauwerk hindurchfloss. Sie machte einen so gedankenverlorenen Eindruck, dass du auf Anhieb an den Abend eures ersten Kusses zurückdenken musstest, an dem ihr noch auf einer Wellenlänge gelegen hattet. Damals war sie an genau derselben Stelle wie jetzt vorgetreten, um das schnell dahinströmende dunkle Wasser zu betrachten.
    Aber inzwischen war nichts mehr übrig von eurem Glück, und als du sahst, wie sie in dieser endlosen Einsamkeit versank, hatte das etwas schrecklich Melancholisches, ja Gespenstisches, das dir Angst machte. Ohne dich zu erkennen zu geben, gingst du zur Brücke, und einen kurzen Moment lang sah ihr weißes Gesicht im Dunkeln forschend zu dir herüber. Aber sie schien weder dich noch sonst was bemerkt zu haben, da ihr Blick bald darauf wieder auf den Fluss gerichtet war.
    Eine Zeit lang geschah gar nichts, bis dir plötzlich das Blut in den Adern gefror, weil du inmitten dieses Trauerflors aus Dunkelheit die Gegenwart des Todes spürtest: Es fehlte nicht viel, und du glaubtest, sie springen zu sehen, aber deine verzweifelte Stimme, die ihren Namen rief, drang bis zu ihr durch. Sie sah in deine Richtung und machte sofort einen Rückzieher. Wie von Sinnen ranntest du auf sie zu, zogst sie so fest an dich, dass ihr beinahe miteinander verschmolzt, während sie das Gesicht an deiner Schulter verbarg und du sie hemmungslos weinen hörtest.
    Â»Ich will sterben«, sagte ihre Stimme und übertönte ihr Schluchzen. »Ich kann so nicht weiterleben. Niemand kann das.«
    Â»Red bitte keinen Unsinn!« Du hast sie geschüttelt. »In unserem Alter kann man gar nicht ernsthaft sterben wollen. Und du schon gar nicht – so schön und liebenswert, wie du bist!«
    Â»Aber ich halte es einfach nicht mehr aus«, widersprach sie schluchzend. »Ich habe keine Lust mehr, deinetwegen zu leiden!«
    Â»Du leidest? Wegen eines Menschen, der dich liebt und dich einfach nur glücklich machen will?«
    Â»Du hättest nicht aufhören dürfen, mich zu lieben«, protestierte sie mit brüchiger Stimme. »Du hättest mich weiterlieben müssen wie bisher!«
    Â»Ich? Das letzte Rad am Wagen? Ich, der ich es nicht mehr ertragen konnte, dir wehzutun? Außerdem habe ich dir Briefe geschrieben, dir Geschenke gemacht, aber du warst ja unerbittlich! Solche Missverständnisse sollten verboten werden!«
    Â»Es war demütigend, dermaßen ignoriert zu werden. Wie konntest du das bloß nicht bemerken?«
    Â»Immer wenn ich deinetwegen gelitten habe wie ein Tier«, sagtest du. »Immer wenn du zu mir auf Distanz gegangen bist, auch schon vor Genua: an dem Vormittag in der Wohnung in der Via del Anfiteatro, als du mir gesagt hast, dass ich nur ein Zeitvertreib für dich bin! Glaubst du, das hat sich gut angefühlt? Du hast mich vom ersten Tag an leiden lassen!«
    Eine Weile sprach keiner von euch ein Wort.
    Â»Weißt du, warum ich springen wollte?«, durchbrach Selvaggia die Stille.
    Â»Meine Güte, nein!«
    Â»Weil du recht hast. In allem. Auch wenn du die ganze Zeit glaubst, du wärst der Einzige, der leidet: Ich habe nachgedacht – darüber was ich dir alles angetan habe – und mir gesagt, dass ich diesmal zu weit gegangen bin. Dass es zu spät ist für eine Wiedergutmachung. Dass ich es verdient habe, so zu leiden, weil ich mich nicht entscheiden konnte, nicht wusste, was ich wirklich will. Aber das weiß ich inzwischen. Wenn mich meine Gewissensbisse jetzt umbringen, ist das alles bloß meine Schuld. Und wenn du nicht gleich sagst, dass du mir verzeihst, dann …« Sie konnte nicht mehr weitersprechen, da sie von Tränen überwältigt wurde. Wenn sie so weitermacht, dach test du in einem Anflug von Albernheit, wird sie noch mein ganzes T-Shirt durchweichen! Aber du warst bloß so albern, weil dir auf einmal so leicht

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