Die Alchemie der Naehe
über den Kopf.
»Und warum kommt es mir dann so schlimm vor, dich zu lieben?«
»Weil es schlimm ist.«
»Nur weil du mein Bruder bist? Sollte Liebe nicht etwas Bedingungsloses sein, etwas das sich jeder sozialen Kontrolle entzieht? Wo steht eigentlich geschrieben â beziehungsweise wer hat eigentlich verfügt â, dass Geschwister sich nicht lieben dürfen? SchlieÃlich tun wir niemandem weh.«
»Zweitausend Jahre Geschichte haben das geschrieben, und verfügt hat es fast die ganze Menschheit. Mit anderen Worten, so gut wie niemand «, sagtest du ironisch.
Sie seufzte, küsste dich auf den Mund und sagte: »Du hast recht, aber es ist mir egal, wenn die ganze Welt gegen uns ist oder wenn uns die Leute aufgrund ihrer Vorurteile ächten. Ich brauche nur dich, um glücklich zu sein.«
Die Ãrmste! Das war das Letzte, was sie sagte, bevor sie sich in deinen Armen beruhigte und ihr salzige Tränen über die Wangen liefen.
Irgendwann beschlosst ihr, auch noch in Malcesine zu Abend zu essen. Von der Aussichtsterrasse eures Lieblingslokals aus bewundertet ihr die Landschaft und rieft euch wieder in Erinnerung, wie ihr euch zum ersten Mal hierhergewagt und gefragt hattet, welche Alchemie unergründlicher Zufälle letztlich zu eurer Begegnung geführt hatte.
Schweigend beschränktet ihr euch darauf, das von den Lichtern der weit entfernten Villen erhellte Panorama zu betrachten. Und ganz so, als könntet ihr Gedanken lesen, wusstest du instinktiv, wo du hinschauen musstest, wenn sie dich auf ein Detail aufmerksam machte, ohne darauf zu zeigen. Ihr aÃt langsam, unterhieltet euch und spürtet eine leise und doch intensive Melancholie, weil der Sommer sich seinem Ende zuneigte und ihr zum letzten Mal in Malcesine wart. Natürlich könntet ihr auch im Herbst wiederkommen, um einen Spaziergang zu machen, aber das wäre einfach nicht dasselbe. Viel leicht musstet ihr euch schlichtweg damit abfinden. Oder etwas dagegen unternehmen.
»Liebling?«, riefst du sanft.
Sie wich ein wenig zurück, um dir in die Augen zu sehen.
»Hör mal!«, sagtest du. »Was hältst du davon, wenn wir hier übernachten?«
Sofort erschien ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht. Am liebsten würde sie dich jetzt ganz fest umarmen, deine Wange mit Küssen bedecken, sagte sie, wenn sie nicht dummerweise dazu verdammt wäre, in einem gut besuchten Restaurant zu sitzen. Du lachtest, und anschlieÃend unterhieltet ihr euch so angeregt weiter, als hättet ihr Angst, alle Zeit der Welt könnte nicht reichen, um euch auszutauschen.
Ihr fandet ein kleine Pension, gabt zu Hause Bescheid, dass ihr mit euren Freunden in Malcesine bleiben und mit einigen davon auch hier übernachten würdet. Euer Vater beratschlagte sich mit eurer Mutter und gab euch die Erlaubnis, nicht ohne euch vor Alkoholexzessen zu warnen (Tatsache!) â Mann, was für ein Weichei!
Dann schlenderten Selvaggia und du unter dem Sternenzelt Hand in Hand durch steile Gassen, die in die geheimnisvolle, nächtliche Stille des Sees gehüllt waren. Und in diesem endlosen Schattenreich spürtet ihr den Empfindungen nach, die von euren ineinanderverschlungenen Händen ausgingen, und fühltet euch lebendiger denn je!
Bald darauf bliebt ihr an der Stadtmauer stehen, bewundertet den Himmel, der bereits den September ankündigte. Du seufztest, passtest deine Atmung der ihren an, küsstest ihren Hals und legtest deine Rechte auf ihr Herz. Selvaggia lieà dich gewähren.
»Mein Herz pocht jetzt ganz schnell«, sagtest du, während die Finger deiner Rechten rasch den Rhythmus deines Herzschlags trommelten.
Sie lachte. »Das glaube ich nicht!«
»So bringst du mich um«, gabst du zurück. »Wenn du mir nicht sofort sagst, dass du mich liebst, muss ich sterben. Mein Herz gibt fast schon den Geist auf, spürst du das? Es fehlt nicht viel, und es hört ganz auf zu schlagen.« Mit den Fingern â Gott, steh uns bei! Herr, erbarme dich unser! â hast du schwach und unregelmäÃig auf ihre Brust getrommelt wie ein ultraneurotischer, von Alkoholexzessen gezeichneter Schlagzeuger.
»Ich liebe dich«, sagte sie und presste deine Hände unerbittlich wie eine Planierraupe, ja wie ein Bulldozer für Love affairs an ihre Brust â schluck! Und noch immer wart ihr auf freiem FuÃ, und niemand beschwerte sich, dass ihr
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