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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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Schulter rütteltest, um sie zu wecken. Verwirrt schlug sie die Augen auf. »Los komm, wir sind da«, sagtest du leise und beugtest dich über sie. Kurz darauf taumeltet ihr schwankend vor Müdigkeit in die feuchtwarme Nachtluft hinaus.
    Trotz der schweren Koffer fühltest du dich, kaum dass du den Bahnhof von Verona betreten hattest, sofort wieder zu Hause. Auf einmal warst du mit dir im Reinen, spürtest so etwas wie Geborgenheit im Gewahrsam jener Kleinstadt, in der du aufgewachsen warst und die all die armseligen Gewissheiten deines Lebens in sich vereinte.
    Selvaggias nachdenkliche, stille Miene und ihr trauriges, von dicken, langen Haaren wunderschön umrahmtes Gesicht hatten sich kein bisschen verändert. Denn diese Stadt, so sagtest du dir auf einmal in namenloser Verzweiflung, hatte ihr nichts zu bieten außer dir, den Bruder und Liebhaber, von dem sie ausdrücklich nichts mehr wissen wollte. Nachdem ihr endlich vor dem Bahnhofsgebäude standet, war es nicht mehr weit mit dem Taxi, und als ihr euch auf dem heimischen Gartenweg vorwärtskämpftet, war klar, dass ihr euch kaum noch auf den Beinen halten konntet und euch gegenseitig stützen musstet.

44
    Es folgten trostlose Tage.
    Selvaggia redete nicht mit dir, wollte dir nicht zuhören, drehte sich nicht um, wenn du nach ihr riefst – ganz so als wärst du für sie ein Gespenst, ein erloschener Stern oder ein Fremder, den man keines Blickes zu würdigen braucht.
    Daraufhin verbrachtest du die meiste Zeit im Schwimmbad, und während du in diesen zähen, ziellosen Trainingstagen versankst, schriebst du ihr Briefe und dachtest an sie, machtest ihr Überraschungsgeschenke und fuhrst sie überall dorthin, wo sie hinwollte. Die Zeit heilt alle Wunden, sagtest du dir, aber die Kluft zwischen euch schien unüberwindbar zu sein, zumindest war sie in all den Tagen nicht kleiner geworden. Trotzdem würdest du nie im Leben auch nur eine Sekunde lang akzeptieren, dass du sie verloren hattest.
    Trostlose Tage, in denen sie alle deine Briefe ungelesen in eine Schublade in ihrem Zimmer legte und deine Geschenke ignorier te, die sie sonst wo aufbewahrte, natürlich auch unausgepackt.
    Â»Alles in Ordnung, Giovanni?«, fragte dich dein Vater eines Abends beim Essen. »Du bist so still in letzter Zeit.« Dabei warf er deiner Mutter einen vielsagenden Blick zu. »Bedrückt dich vielleicht irgendwas?«
    Du starrtest auf die Serviergabel für die gratinierten Tomaten, und einen winzigen Moment lang sahst du zu Selvaggia hinüber in Erwartung einer irgendwie gearteten Reaktion, die allerdings ausblieb. Dann verneintest du und lächeltest angestrengt, unterdrücktest deine Enttäuschung. »Ich bin bloß ein bisschen müde. Das Schwimmtraining, ihr wisst schon. Jetzt, wo die Regionalwettkämpfe kurz bevorstehen, wird es immer anstrengender.«
    Â»Klar«, sagte dein Vater. »Aber ehrlich gesagt, finde ich nicht, dass du dich bis zur Erschöpfung verausgaben solltest. Sport ist mehr als stupide Anstrengung und Rekorde, auch wenn uns viele das Gegenteil weismachen wollen. Danach ließ seine Aufmerksamkeit nach, bis sie schließlich ganz erlosch. Du nicktest flüchtig und nahmst dir schnell die beiden gratinierten Tomaten, auf die du schon länger ein Auge geworfen hattest.
    Uff, du verdammter Blindfisch!
    Dein Schmerz wich tiefster Resignation, zumindest fühlte es sich so an. Du hadertest mit dir, versuchtest Selvaggia zu vergessen und verließt kaum noch das Haus, höchstens um im Schwimmbad zu trainieren. Ansonsten lagst du den ganzen Tag bei geschlossenen Fensterläden im Bett, während die Augusthitze bis in jeden Winkel vordrang. Du suhltest dich in deinem Schmerz und dachtest an sie – daran, wie grausam es war, sie sich aus dem Kopf schlagen zu müssen. Selvaggia hatte dich verlassen. Wozu weiterleben, wenn man den einzigen Menschen, den man liebte, niemals haben konnte?
    Eines Abends, als du nach dem Essen allein auf deinem Zimmer saßt und dich deinen Depressionen hingabst, kam deine Mutter herein.
    Â»Giovanni …, willst du mir nicht sagen, was eigentlich los ist?«, fragte sie, kaum dass sie das Zimmer betreten und die Tür angelehnt hatte.
    Â»Nichts.«
    Â»Komm schon, lüg mich nicht an. Ich bin deine Mutter.«
    Und genau deswegen belüge ich dich, dachtest du mit einem angedeuteten Grinsen, das sie als vertrauliches

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