Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
einmal Rupert trug etwas bei sich. Nur Gillian mochte sich mit bloßen Händen zu wehren wissen, daran hatte Aura keinen Zweifel.
Jegliche Gegenwehr blieb demnach ihm allein überlassen – und genauso wollte er es. Er war regelrecht besessen davon, Lysander mit eigenen Händen zu töten.
»Öffnen!« befahl Gillian dem Fettfischer, deutlich barscher als zuvor.
Rupert legte langsam die Hand auf den Knauf, drehte ihn nach links. Der Mechanismus klickte. Der Fettfischer blickte sie noch einmal der Reihe nach an, dann zog er die Tür mit einem einzigen Ruck weit auf.
Vor ihnen öffnete sich der Blick in eine weite Halle. Die getäfelten Wände waren über und über mit Gemälden behängt; sogar an der Innenseite der Tür hing eines, und im selben Augenblick, da Rupert sie aufzog, erkannte Aura das Motiv. Es war ihre Insel, das Eiland, auf dem Schloß Institoris stand. Doch etwas unterschied das Gemälde von dem vertrauten Anblick: Der Zypressenhain war niedergebrannt, die Bauten zu Ruinen verfallen. Eine schwarze Rauchsäule stieg wabernd gen Himmel.
Gillian trat achtlos an dem Bild vorüber und schaute sich suchend in der Weite der unterirdischen Halle um. Aura und ihre Stiefbrüder folgten ihm zögernd.
Rupert sprang an ihnen vorbei, mehrere Schritte weit in die Halle hinein, und stieß einen langgezogenen Pfiff aus. Durch das offene Haupttor des Saales stürmten zwei Dutzend Fettfischer, mit einer Selbstverständlichkeit, als sei dies nicht Lysanders, sondern ihr eigenes Zuhause. Christopher fluchte laut, auch Daniel rief etwas, und als Aura sich umschaute und zurück in den Gang blickte, durch den sie gekommen waren, da erkannte sie, daß auch jene Fettfischer, die sie am Eisenrost zurückgelassen hatten, zu ihnen aufgeschlossen hatten. Gerade stiegen die letzten durch die Eichenwand und näherten sich stumm von hinten.
»Verräter!« spie Daniel Rupert entgegen und machte durch Blicke deutlich, daß er Gillian in diese Anschuldigung miteinschloß.
Die Fettfischer in der Halle bezogen in einem Halbkreis um ihren Anführer Stellung – eine Mauer aus zerlumpten, schmutzigen Gestalten, die inmitten dieser Pracht aus kostbaren Bildern und exotischen Teppichen völlig deplaziert wirkten.
Aura erwartete ein siegessicheres Grinsen auf Ruperts Gesicht, doch als sie ihn ansah, entdeckte sie in seiner Miene nichts als Kummer – und etwas, das Gier sein mochte.
Der Fettfischer streckte ihnen die offene Hand entgegen. »Mein Preis!« verlangte er. Die Geste war symbolisch gemeint; er stand viel zu weit von ihnen entfernt, als daß sie tatsächlich etwas in seine Hand hätten legen können.
Aura konnte sich vor Entsetzen kaum rühren, und um so überraschter war sie, als Gillian völlig gelassen blieb. »Muß ich dich noch einmal an unsere Abmachung erinnern, Rupert? Der Preis wird fällig, sobald wir Lysander gegenübertreten – und, um ehrlich zu sein, ich frage mich gerade, ob die Umstände nicht gegen eine Auszahlung sprechen.« Soviel Sarkasmus, ja Humor lag in seiner Stimme, daß Aura ihren Ohren kaum traute.
»Du Hund!« schimpfte Rupert. »Du wirst mir sofort –«
»Bitte, bitte«, sagte da eine hohle Stimme. Sie kam von einem Podest an der Stirnseite der Halle, einer Erhöhung, die nur über einige Stufen zu erreichen war. »Wir wollen doch nicht in den Jargon der Gasse verfallen – oder, wenn ihr so wollt, in den des Kanals.«
Aura mußte nicht sehen, wer die Worte gesprochen hatte, um zu wissen, daß sie am Ziel waren. In der Mitte der Empore lehnte an einem Holzgerüst ein hohes Gemälde, ein lebensgroßes Porträt des Kaisers Franz Joseph, in weißer Uniformjacke, roter Hose und mit mächtigem Backenbart. Die Stimme erklang von der Rückseite des Gemäldes.
»Was soll das, Lysander?« rief Gillian. »Warum versteckst du dich vor uns?«
Der Alchimist antwortete nicht sofort. Statt dessen ertönte ein tiefes Seufzen. »Du hast einen Fehler gemacht, Gillian. Wie konntest du annehmen, ich würde hier völlig schutzlos auf dich warten? Zudem muß ich gestehen, daß ich immer noch ein wenig verstimmt bin, daß Stein und Bein nicht mehr unter uns weilen. Ihre Ausbildung war immerhin … nun, sagen wir, langwierig.«
»Ich habe dich vermutlich unterschätzt«, sagte Gillian, aber Aura glaubte ihm kein Wort. So dumm war er nicht.
»Sie, meine Dame«, sagte der gemalte Monarch mit Lysanders Stimme, »müssen Aura Institoris sein. Nestors Tochter. Ich bitte die Feststellung zu verzeihen, aber Sie haben
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