Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
sämtliche Vorzüge Ihrer Mutter geerbt, meine Liebe.«
Aura brachte vor Zorn einen Moment lang kein Wort heraus. Dann erst fragte sie mit gepreßter Stimme: »Wo ist meine Schwester?«
»Sie ist in Sicherheit.« Lysander lachte leise. »Gut bewacht, wie Sie sehen.«
»Wenn Sie wirklich vorhaben, sie zu –«
»Ach, meine Liebe«, unterbrach Lysander sie gedehnt. »Der süßen Sylvette wird kein Leid geschehen. Ich nehme an, Gillian hat Sie über vieles aufgeklärt. Dann wissen Sie auch, daß der Zeitpunkt ihrer Reife erst mit der Volljährigkeit eintritt. Ich bin nicht sicher, wie Nestor es damit gehalten hat« – er machte eine betonte Pause, um die schändliche Unterstellung seiner Worte auszukosten – »aber ich gedenke nicht, die kleine Sylvette durch Ungeduld zu verderben. Bis sie einundzwanzig ist, werden noch zehn Jahre vergehen. Und so lange wird sie schlafen. Tief und fest schlafen.«
»Was haben Sie mit ihr gemacht?« rief Aura außer sich vor Abscheu, und doch war nicht sie es, sondern Christopher, der plötzlich lossprang und wutentbrannt auf die Empore zustürzte. Er kam genau fünf Schritte weit – dann warfen sich vier Fettfischer auf ihn und zerrten ihn zu Boden.
»Sie elender Dreckskerl!« brüllte Christopher und versuchte, sich loszureißen. »Wie können Sie es wagen, einem Kind so etwas anzutun?«
»Sieh an«, stieß Lysander in gespieltem Erstaunen aus. »Kommt solch garstiger Vorwurf etwa aus dem Mund desselben jungen Mannes, der die Güte einer braven Frau so schändlich mißbraucht hat? Derselbe junge Mann, der keine Skrupel hatte, Nestors Tod zu verschweigen und dessen Forschungen auf eigene Faust fortzuführen? Derselbe junge Mann etwa, der ohne ein Wimpernzucken den Mann getötet hat, der seiner Stiefmutter alles bedeutet hat?«
Christopher blieb gerade noch die Zeit, sich entsetzt zu wundern, woher Lysander all diese Informationen hatte, ehe er unter dem Hieb eines Fettfischers zusammensank. Aura und Daniel starrten ihn entgeistert an, unsicher, ob sie Lysanders Worten Glauben schenken sollten. Und doch, was wogen solche Anschuldigungen schon angesichts ihres Feindes? Es ging jetzt nicht um Christophers Schuld, sondern allein um die Rettung Sylvettes.
»Was meinen Sie damit: Sie wird schlafen?« fragte Aura unsicher.
Es war Gillian, der ihr die Antwort gab. »Hypnose. Er hat sie in Tiefschlaf versetzt. Er hat das schon mit vielen getan.«
»Eine Leichtigkeit, wirklich«, bestätigte Lysander. »Ihr Vater, Fräulein Aura, hätte das genauso geschafft. Sylvette ruht in einer Art Scheintod. Vollkommen gefahrlos, wie ich hinzufügen darf.«
Gillian lachte hämisch auf. »Glaubst du wirklich, du wirst zehn Jahre warten können? Hast du soviel Zeit?«
»Wenn mich die Umstände nicht eines Besseren belehren.«
»Die Umstände?« entfuhr es Aura, aber sie erwartete keine Erklärung.
Wieder war es Gillian, der das Wort ergriff. Er warf dem finster dreinschauenden Rupert einen amüsierten Blick zu. »Ein hübscher Zug, Lysander, ausgerechnet die Fettfischer als Wächter anzuheuern.«
»Aus der Not eine Tugend gemacht«, entgegnete die Stimme hinter dem Gemälde. »Um so erfreulicher, daß du dich ausgerechnet an sie gewandt hast, um dich und deine Freunde hierherzuführen.«
Gillian nickte anerkennend, doch Aura spürte, daß irgend etwas daran falsch wirkte. Gillian spielte eine Rolle, die des stolzen Geschlagenen, und irgend etwas sagte ihr, daß er nicht wirklich so empfand. Es war fast, als hielte er noch einen verborgenen Trumpf in der Hinterhand.
»Ich hätte wohl ahnen müssen«, gestand Gillian ein, »daß du Rupert einen Handel anbieten würdest. Obgleich ich sagen muß, daß ich den Geschmack der Zwillinge, was Kleidung und Duftwasser anging, bevorzugt habe.«
Rupert stampfte wutentbrannt mit den Füßen auf. Er sah aus, als wolle er sich auf den Hermaphroditen stürzen. »Du bist mir noch einen Preis schuldig«, knurrte er verbissen.
»Ganz sicher keinen, den Lysander nicht übertreffen könnte«, gab Gillian gelassen zurück.
»Du weißt genau, welchen Preis ich meine«, beharrte der Fettfischer.
Lysander meldete sich wieder zu Wort. »Wollt ihr mich nicht in euer kleines Geschäft einweihen? Ich bin sicher, wir werden eine Lösung unter Gentlemen finden.«
Daniel, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, schien kaum glauben zu können, was er da hörte. »Das kann doch alles nicht wahr sein«, stammelte er leise.
Aura trat neben ihn und ergriff seine
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