Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
nickte knapp.
Wenig später waren Aura und Christopher dem Ungar um mehrere Ecken zu einer weiteren Halle gefolgt, kaum halb so groß wie die erste. Auch sie war vollkommen schmucklos. Ziegelrote Wände, eine leicht gewölbte Decke. Ein unebener Steinboden, dem ein paar Teppiche gutgetan hätten.
In der Mitte befand sich ein Himmelbett mit zerschlissenen Gazevorhängen. Darauf lag jemand. Rund um das Bett standen mehrere Söldner mit ihren Bajonetten im Anschlag.
»Ist er das?« fragte Balássy.
Aura trat zwischen den Söldnern hindurch an die Bettkante. Die Gestalt auf der Matratze hatte graues, strähniges Haar und eine ausgeprägte Raubvogelnase. Aura hatte einmal die Photographie einer Mumie gesehen; dieser Mann hier sah genauso aus, mit dem Unterschied, daß seine Augen offenstanden und reglos zur Decke blickten. Bis über die Brust war der Alte mit einem dünnen Laken bedeckt, seine Arme ruhten kraftlos zu beiden Seiten seines mageren Körpers. Seine Glieder hoben sich unter dem Laken ab wie knorrige Äste, die man beliebig zusammengesteckt hatte, Aura mußte den Drang niederkämpfen, die Decke zurückzuschlagen und den Körper darunter zu betrachten. Sie hatte noch nie einen so alten Menschen gesehen. Er flößte ihr auf unbestimmte Weise Ekel ein.
Balássy berührte sie am Arm. »Ist das der Mann, den Sie suchen?« fragte er noch einmal.
»Ich weiß es nicht.« Ohne den Ungarn anzusehen, setzte sie sich auf die Bettkante und beugte sich vor, bis sie dem Alten geradewegs in die Augen schauen konnte. Sie wußte selbst nicht, was sie darin suchte. Irgendein Zeichen, vielleicht. Einen Beweis.
Bislang hatte der Mann kein Wort gesprochen, doch jetzt öffneten sich seine Lippen ruckartig zu einem dünnen Spalt, die Bewegung einer hölzernen Bauchrednerpuppe. Ein leises Wispern stieg aus seiner Kehle empor.
»Was sagt er?« Christopher drängte sich durch die Männer an Auras Seite. In seiner Stimme lag Abscheu.
»Alles … umsonst«, krächzte der Greis im Bett. Die Laute verursachten Aura Übelkeit. Auch Christopher verzog das Gesicht.
»Umsonst«, wiederholte der Alte.
Aura rang um ihre Beherrschung. »Wo ist meine Schwester?«
Die Augenlider des Mannes flatterten. »Sylvette?«
Christopher beugte sich vor und wollte den Greis an den Schultern packen. Doch schon bei der ersten Berührung zuckte er zurück, als habe er glühende Kohlen berührt. Er brachte es kein zweites Mal über sich, die Hände nach dem Alten auszustrecken.
»Wo ist sie?« fragte er drohend.
»Fort«, stieß der Alte aus.
Auras Stimme bebte. »Sie sind Lysander, nicht wahr?«
Ein scharfes Krächzen kam über die Lippen des Alten. Ein Lachen.
»Sylvette … geweckt.« Seine Stimme wurde leiser. Aura näherte sich unter Aufbietung ihres ganzen Willens seinem Mund.
»Vor fünf Jahren«, raunte der Greis. »Konnte nicht warten. Wurde älter und … älter. Mußte den Vorgang aufhalten.«
»Was haben Sie Sylvette angetan?« Christophers Stimme klang heiser. »Das Kind da draußen – ist das Sylvettes Tochter?«
»Meine Tochter«, keuchte der Alte. »Meine Tochter und … Sylvettes Tochter! Süße, liebe, kleine Tess. Sieht sie nicht aus … wie ihre Mutter?«
»Was ist mit Sylvette geschehen?« fragte Aura erregt. »Wo haben Sie sie hingebracht?«
»Fort von hier … fort mit all den anderen.«
»Wohin?«
»Sie ist weggelaufen. Weg von mir.« Großer Gott, waren das Tränen in seinen Augen? »Sie hat mich … verlassen. Genau wie alle anderen.«
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, Sie hätten jahrelang allein mit einem kleinen Kind hier unten gelebt?«
»Allein. Hilfe … von oben. Essen, Pflege aus der Burg.«
Christopher spuckte aufs Bett. Der Speichel sickerte wie getauter Schnee ins Laken.
Hinter ihnen waren jetzt Schritte zu hören, leichte, kindliche Schritte. Plötzlich stand Tess neben Aura, in einer Hand immer noch die Puppe. Regungslos starrte sie den sterbenden Alten an.
»Tess«, fragte Aura ernst, »ist das dein Vater?«
Das Mädchen gab keine Antwort.
Balássy flüsterte im Hintergrund: »Die Kleine ist nicht ganz richtig im Kopf.« Zustimmendes Raunen aus der Reihe seiner Männer.
Aura warf dem Söldnerführer einen erbosten Blick zu. Im stillen aber mußte sie ihm rechtgeben. Tess’ Eltern waren Vater und Tochter. Möglich, daß allein das ausgereicht hatte, ihren Geist zu verwirren. Hinzu kamen die Jahre in diesen Gewölben, an der Seite Lysanders.
Aura wurde von dem brennenden Wunsch gepackt,
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