Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
unserem Lager. Sie hatten Puppen dabei, so ähnlich wie diese da. Sie waren vollgestopft mit Sprengstoff. Die Zündschnüre verliefen an den bloßen Armen der Kinder hinauf bis zur Schulter. Die Länge war genau berechnet. Die ersten explodierten, als sie unsere Schützengräben erreichten.«
Aura schüttelte angewidert seinen Arm ab. »Und, was haben Sie getan?«
Der Söldner hielt ihrem Blick mühelos stand. »Wir haben die übrigen erschossen, bevor sie unseren Linien gefährlich werden konnten.«
Das Mädchen hatte jetzt die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Die Vorstellung, Balássy könne auf die Kleine anlegen lassen, brachte Aura in Rage. Mit einem Fluch ließ sie den Ungarn stehen und lief dem Kind entgegen. Sie erreichte es nach wenigen Schritten, ging vor ihm in die Hocke und hielt es vorsichtig an den Schultern fest.
»Hallo«, sagte sie freundlich. »Ich bin Aura, und wer bist du?«
»Tess«, erwiderte die Kleine mit piepsigem Stimmchen. Dabei blickte sie starr an Aura vorbei, hinauf zu ihren Bauklötzen.
Balássy wollte sich den beiden nähern, doch Christopher hielt ihn mit einem Wink zurück. »Warten Sie. Aura weiß, was sie tut. Außerdem«, fügte er mit spöttischem Grinsen hinzu, »sind wir hier nicht im Sudan. In Wien explodieren Kinder nur an Neujahr. Wenn überhaupt.«
Der Ungar funkelte ihn wutentbrannt an, blieb aber stehen. Schließlich löste sich sein Blick von Christopher. Aufmerksam beobachtete er Aura und das Mädchen.
»Was tust du hier?« fragte Aura leise.
Die Kleine – Tess – sah sie nur verständnislos an. »Ich will meine Bauklötze.«
»Ja, sicher«, erwiderte Aura und ließ die Schultern des Mädchens los.
Zu ihrem Erstaunen blieb Tess stehen. Zum ersten Mal sah sie Aura fest in die Augen. Dabei ergriff sie eine ihrer Hände. Ohne hinzuschauen sagte sie: »Du kaust an deinen Fingernägeln.«
Aura lächelte unsicher. »Jetzt hast du mich aber erwischt!« Insgeheim fragte sie sich, wie Tess das bemerkt hatte, ohne ihre Finger überhaupt anzuschauen.
Das Mädchen ließ ihre Hand los und setzte sich wieder in Bewegung. Ohne Balássy, Christopher und die übrigen Männer zu beachten, lief es die Stufen hinauf und ging vor den Bauklötzen in die Hocke. Dabei wandte es dem Saal den Rücken zu.
Einen Augenblick lang genoß Aura den hilfesuchenden Blick, den Balássy ihr zuwarf. Ein Trupp bewaffneter Feinde wäre ihm lieber gewesen als dieses Kind, mit dem er nichts anzufangen wußte.
»Suchen Sie weiter«, befahl Aura. »Ich kümmere mich um das Mädchen.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als am Tor Schritte laut wurden. Zwei Soldaten kehrten zurück.
»Wir haben etwas gefunden«, sagte der eine.
Balássy eilte auf sie zu. »Was denn?« fragte er ungeduldig und sichtlich irritiert, daß er keinen Kampflärm gehört hatte. Aura hatte den Eindruck, als bedaure der Söldnerführer, daß dieser Einsatz bislang ganz anders – unblutiger – verlaufen war, als er erwartet hatte Die Söldner raunten ihm etwas zu. Daraufhin verschwand Balássy mit ihnen im Korridor. Christopher überlegte einen Moment lang, ob er ihnen folgen sollte, dann aber entschied er, mit Aura zur Empore hinaufzusteigen.
»Dir ist es auch aufgefallen, nicht wahr?« fragte er.
»Ja.« Aura blickte auf die Kleine hinunter, die ungerührt ihre Bauklötze aufeinanderstapelte. »Sie sieht aus wie Sylvette.«
Aura kniete sich neben das Mädchen. »Tess?« fragte sie vorsichtig.
Die Kleine beachtete sie nicht.
»Tess?« Ein wenig lauter diesmal.
»Was ist?« Das helle Stimmchen klang trotzig.
»Warum bist du hier?«
»Wo soll ich denn sonst sein?«
Aura sah hilfesuchend zu Christopher auf, der sich ein Grinsen verkniff.
»Hör zu«, versuchte Aura es noch einmal. »Es ist sehr wichtig. Du mußt mir sagen, warum du hier unten bist, in diesem Keller. Wo sind deine Eltern?«
Tess gab keine Antwort. Sie hatte die Bauklötze zu einem hohen Turm gestapelt. Jetzt tippte sie den untersten Stein an. Polternd fiel das ganze Bauwerk in sich zusammen.
»Fräulein Institoris?« rief da Balássy vom Tor aus.
Als Aura und Christopher auffuhren, verkündete er: »Wir haben jemanden entdeckt.«
»Lysander?«
»Das sollten Sie besser selbst entscheiden.«
Aura ließ das Mädchen nur ungern zurück. Dennoch sprang sie die Stufen hinunter und lief eilig auf das Portal zu. »Geben Sie auf das Kind acht«, wies sie im Vorübereilen zwei Söldner an. Die beiden blickten unschlüssig zu Balássy hinüber. Er
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