Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Tess in die Arme zu schließen. Das Mädchen aber blieb starr und gleichgültig.
Das also war das Resultat dieses Wahnsinns: ein Kind, zutiefst verstört, Folge eines grausamen Mißbrauchs. Gezeichnet schon vor der Geburt.
Aura traf eine Entscheidung. »Du kommst mit mir«, flüsterte sie der Kleinen ins Ohr. »Es gibt jemanden, der dich bestimmt gerne kennenlernen würde.«
Der Greis hatte die Worte gehört. »Nein!« keuchte er und bäumte sich auf, als habe man ihm einen Stromschlag versetzt. »Tess ist meine Tochter. Meine Tochter! Niemand darf sie mir wegnehmen.«
Dann lag er still, den Mund leicht geöffnet, die linke Hand um Auras Unterarm gekrallt.
Beinahe panisch löste Aura ihren Arm aus seiner Umklammerung. Wo seine Hand sie berührt hatte, war der Flaum von ihrer Haut verschwunden. Erschrocken und fasziniert zugleich hob sie ihren Unterarm vor die Lippen und blies sanft dagegen. Die losen Härchen wirbelten davon. Die kahle Stelle war scharf umrissen.
»Ist er tot?« fragte Christopher.
Der Söldnerführer trat vor und fühlte den Puls des Alten. »Nein, er lebt noch.«
Aura blickte verwundert von dem Greis zu Balássy. »Aber er atmet nicht. Sehen Sie doch!« Tatsächlich schien die Brust des Alten stillzustehen.
»Er wird sterben«, sagte der Ungar. »Spätestens morgen früh ist es mit ihm vorbei. Es sei denn, Sie wollen dem Schicksal vorgreifen.«
Einen Moment lang fand Aura keine Worte. Jahrelang hatte sie davon geträumt, Lysander zu töten, ihm ein für allemal den Garaus zu machen. Ein Drang wie ein schwarzer, kalter Fluß, in den sie Nacht für Nacht hinabgetaucht war, um am Morgen ihrem Ziel mit neuer Kraft entgegenzusehen. Nun aber, da Lysander vor ihr lag, nun. mehr eine Hülle, in der nichts geblieben war vom teuflischen Verstand des Alchimisten, nun ekelte ihr davor, Hand an ihn zu legen.
Doch war das überhaupt nötig? Schließlich hatte sie dafür bezahlt, daß andere ihr diese Bürde abnahmen.
Mit brüchiger Stimme sagte sie: »Töten Sie ihn.«
Die Bajonettspitzen ruckten heran, auf den Körper des sterbenden Alchimisten zu.
Da rief Christopher: »Nein! Warten Sie!«
Die Söldner bremsten ihre Stöße. Die Klingen verharrten über dem ausgezehrten Körper, zitternde Damoklesschwerter.
»Geben Sie jetzt die Befehle?« fragte Balássy kalt.
»Wir können ihn nicht töten. Es wäre Sünde.«
»Sünde?« Auras Augen verengten sich, als sie Christopher ungläubig anstarrte. »Du weißt, was dieser Mann getan hat. Er hat den Tod tausendfach verdient.«
»Gott wird ihn bestrafen.« Christophers Stimme schwankte, als sei er selbst nicht völlig von seinen Worten überzeugt. Doch sein Glaube saß tiefer als sein Haß.
»Was schlägst du vor?« Aura baute sich vor ihm auf, die Hände in die Seiten gestützt. Sie spürte, daß auch ihr Wunsch, den alten Mann zu töten, verblaßte.
»Vielleicht sollten wir ihn mitnehmen«, schlug Christopher vor und ignorierte die höhnischen Blicke der Söldner. »Ihn der Polizei ausliefern.«
»Der Polizei? Gerade du solltest es besser wissen!«
»Trotzdem«, widersprach er mühsam, als rede er gegen seine Überzeugung an. »Wir dürfen ihn nicht töten. Zu viele Menschen sind bereits umgekommen. Daniel, Gillian … Friedrich. Es ist genug.«
Aura war drauf und dran, Christopher zu ignorieren und Balássy zu befehlen, er möge Lysander endlich töten. Dann aber wurde ihr klar, daß sie damit nur die Schuld auf einen anderen abschob. Tatsächlich würde immer sie es bleiben, die den Tod des Alten veranlaßt hatte.
»Man wird ihn retten«, sagte sie, als spräche sie zu sich selbst. »Es muß hier noch mehr Menschen geben. Irgendwer hat sich um ihn und das Kind gekümmert. Sie werden ihn holen, sobald wir fort sind. Sie werden ihn gesund pflegen.«
»Der wird nicht mehr gesund«, knurrte Balássy, »glauben Sie mir. Es ist das Alter. Dagegen hilft nicht mal das beste Medikament.«
Christopher hakte nach und packte Aura am Arm. »Er stirbt, Aura. Aus welchem Grund auch immer. Lysander stirbt.«
Dann drehte er sich einfach um und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.
Die Blicke der Söldner ruhten nun alle auf Aura. Sie zögerte noch einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf, so langsam, als versuche irgendeine Macht, sie zurückzuhalten. »Nehmen Sie die Waffen runter«, sagte sie schließlich. »Sie haben es alle gehört – er wird sterben. Auch ohne daß wir uns die Hände schmutzig machen.« Sie sagte »wir«, aber
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