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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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tatsächlich sprach sie nur für sich selbst. Es war eine Sache, jemandem den Tod zu wünschen, aber eine ganz andere, ihn selbst zu töten. Ganz kurz überkam sie die Erinnerung an den Greis in der Hütte, aber sie verdrängte die Bilder sofort.
    Sie holte Christopher kurz darauf ein, an der zugigen Ecke eines Korridors. Tess hielt sie an der Hand; Aura brachte es nicht über sich, sie loszulassen. Sich von Tess zu lösen, den Glauben an Sylvette aufzugeben – das war in diesem Augenblick ein und dasselbe.
    Christopher blickte ihnen entgegen. Er lehnte an der Wand, seine Augen waren gerötet. »Warum hast du mich befreit, Aura? Warum wolltest du, daß ich mit hierherkomme?«
    »Damit es ein Ende hat«, sagte sie sanft. »Damit all das hier endlich ein Ende hat.«
    Er warf den Kopf zurück und stieß einen bitteren Laut aus. »Und, zufrieden?«
    Aura schaute auf Tess hinab, die apathisch ins Dunkel starrte.
    »Nein«, erwiderte sie dann. »Aber es war auch nicht der einzige Grund.«
    Er legte den Kopf schräg. Einen Augenblick lang glaubte sie, er werde etwas Verächtliches erwidern, irgend etwas, das sie verletzen sollte. Aber Christopher schwieg. Wartete ab, was sie zu sagen hatte.
    »Ich brauche jemanden«, sagte Aura leise und schaute zu Boden.
    »Einen Freund, um das alles durchzustehen.«
    »Einen Freund?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, was du brauchst, ist jemand, der dir sagt, daß du das Richtige tust. Jemand, der dir die Verantwortung abnimmt. Aber sieh mich an! Bin ich vielleicht derjenige? Ich bin schwach, Aura. Verantwortung ist nichts für mich. Und ich werde der letzte sein, der sagt: ›Das hast du gut gemacht‹.«
    Sie erschrak über die Leichtigkeit, mit der er sie durchschaute.
    »Wir haben Lysander besiegt«, entgegnete sie. »Auch du.«
    »Aber du willst noch viel mehr als das, nicht wahr? Du willst seine Spuren auslöschen. Deshalb hast du mich aus dem Gefängnis geholt. Um alles auszulöschen, was er verschuldet hat.«
    »Ist das so falsch?« Aura drückte Tess’ kleine Hand immer fester. Sie war es, die sich an das Kind klammerte, nicht umgekehrt.
    »Falsch? Nein.« Christopher lehnte den Kopf zurück an die Wand. »Aber was ist mit ihr? Tess ist Lysanders Tochter. Und wenn du so willst: die tiefste all seiner Spuren.«
    »Sie ist auch Sylvettes Tochter – deine Nichte, Christopher.«
    Da blickte er sie beide an, erst Aura, schließlich Tess, und dann, ganz langsam, nickte er. Aber er sah aus, als habe er Schmerzen dabei.

KAPITEL 2
    In manchen Jahren, vor allem im September, wechselte der Küstenwind seine Richtung und blies tagelang vom Festland hinaus auf die See. Dann sah es aus, als neigten sich die Zypressen den Fenstern des Schlosses entgegen, um den Bewohnern etwas zuzuraunen. Warnungen vielleicht, oder Geheimnisse. Die uralte Weisheit der Bäume.
    Aura konnte den Blick nicht von den gebeugten Wipfeln lösen. Sie vernahm das leise Rascheln der Zweige, und sie sah, daß die meisten der Bäume von Spinnweben überzogen waren. Das geschah in jedem Herbst. Kreuzspinnen, die ihre Zeichnung daumennagelgroß auf dem Rücken trugen, krochen aus den Tiefen des dunklen Geästs hervor und umhüllten die Zypressen mit ihren Gespinsten.
    Die Bäume wuchsen um Aura und Tess empor in den Himmel wie die Säulenhalle einer vorzeitlichen Tempelanlage. Christopher ging zwei Schritte hinter ihnen.
    »Ich habe mich gefragt, was du empfinden würdest, wenn du hierher zurückkehrst«, sagte Aura, ohne sich zu ihrem Stiefbruder umzublicken.
    »Was hast du erwartet? Beschämung? Furcht? Ein schlechtes Gewissen?« Am Tonfall seiner Stimme erkannte sie, daß ihn die Rückkehr ins Schloß keineswegs so unberührt ließ, wie er sie glauben machen wollte.
    Sie erreichten den Rand des Zypressenhains und traten auf den schmalen Grasstreifen zwischen Bäumen und Schloßmauer. Zwei Diener erwarteten sie vor dem offenen Portal. Christopher erkannte keinen von ihnen.
    »Wo ist Konrad?« fragte er. »Fortgegangen oder –« »Gestorben«, erwiderte Aura. »Vor drei Jahren.« Im selben Moment wurden die beiden Bediensteten von hinten auseinandergedrängt, und aus dem Dunkel der Eingangshalle sprang eine Gestalt ins Tageslicht. »Mama!« Ein kleiner Junge stürmte Aura entgegen. Sie ging in die Hocke, ohne Tess dabei loszulassen, und drückte den Jungen mit dem anderen Arm an sich. »Es ist schön, wieder bei dir zu sein.«
    Der Junge sah ihr glücklich ins Gesicht. »Du warst gar nicht so lange fort, wie du gesagt

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