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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tür wurde aufgerissen. Ein Wirbel aus weitem Stoff und Muschelgestecken brach über sie herein.
    »Wie kannst du es wagen, ihn in mein Haus zu bringen?«
    Charlottes Stimme war das einzige an ihr, das sich nicht verändert hatte. Die aufdringlich bunten Kleider von damals waren nachtfarbenen Stoffontänen gewichen, die gerafft und verschlungen um ihren Leib lagen. Ihr Gesicht war aufgedunsen und wirkte auf den ersten Blick wie überpudert – dabei war es ihre Haut, die schneeweiß geworden war. Sie trug einen Hut, der aussah wie ein Haufen Muscheln, willkürlich von Wellen am Strand aufgetürmt. Um ihren Hals hingen schwere Ketten – gleichfalls aus Muscheln, natürlich –, ebenso um ihre Handgelenke. Ihre Augen und ihr Mund waren stark geschminkt, schwarze und rote Balken, die sich nicht durch mangelnde Übung entschuldigen ließen.
    Zum ersten Mal seit mehr als vier Jahren hatte Charlotte ihr Zimmer verlassen.
    Gian, der mit Tess an der zur Tür gewandten Seite der Tafel saß, sprang auf, blieb aber trotz seines Schreckens fürsorglich genug, um Tess’ Hand zu ergreifen. »Komm!« zischte er ihr zu, und Sekunden später waren die Kinder unter dem Tisch verschwunden.
    Auch Christopher hatte sich erhoben. Er stützte sich mit den Fäusten auf die Tischkante.
    »Mutter!« sagte Aura mit betonter Ruhe, obgleich sie innerlich aufgewühlt war; sie wußte, daß gegen Charlottes Wahn nur mit Gelassenheit anzukommen war. »Mutter, bitte! Willst du dich nicht zu uns setzen?« Manchmal ließ sich die Raserei ihrer Mutter durch Höflichkeit bändigen.
    Doch Charlotte war nicht in der Verfassung, sich besänftigen zu lassen. Sie stand immer noch im Türrahmen und richtete jetzt anklagend den Zeigefinger auf Christopher. Dabei kam kein Wort über ihre scharlachroten Lippen.
    »Hallo, Mutter«, sagte Christopher leise.
    Die Kinder kauerten mucksmäuschenstill unterm Tisch, drängten sich bleich aneinander. Sie wagten kaum zu atmen, aus Furcht, die große schwarze Frau könne sie bemerken. Auch für Gian war Charlotte eine Fremde. Mehr noch als auf Christopher wirkte sie auf die Kinder wie ein leibhaftiger Racheengel.
    Auras Gedanken überschlugen sich. Der Eklat war zu erwarten gewesen, aber sie hätte ihn gern noch ein wenig hinausgeschoben, wenigstens bis sie und Christopher sich einig waren, wie sie die Suche nach Sylvette fortsetzen wollten. Zudem war noch ungewiß, wie lange Christopher überhaupt bleiben würde.
    Gerade wollte sie weiter auf ihre Mutter einreden, als Charlotte plötzlich herumfuhr und ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer rauschte. Ihre stürmischen Schritte verklangen im Korridor.
    Stille senkte sich über das Zimmer. Alle waren benommen, Schiffbrüchige auf offener See, die knapp einem Unwetter entronnen waren.
    Die Kinder krochen verschüchtert unterm Tisch hervor und kletterten wieder auf ihr Plätze. Es war Tess, die das Schweigen brach. Sie blickte Christopher aus großen Augen an, und dann sagte sie etwas, das alle erschütterte.
    »Warum hast du Großmutters Freund getötet?«
    »Wie konnte sie das wissen?« Das weinrote Leder des Ohrensessels knirschte, als Christopher sich zurücklehnte. Sein Blick hing wie hypnotisiert an den Flammen des Kaminfeuers. »Glaubst du, Lysander hat es ihr erzählt?«
    »Einem so kleinen Kind?« Aura schüttelte nachdenklich den Kopf. »Warum hätte er das tun sollen?«
    »Um den Haß auf die Familie zu schüren, oder um –« Er verstummte abrupt und setzte nach einer Pause resigniert hinzu: »Ach, was weiß ich …«
    Aura und Christopher saßen im alten Herrenzimmer des Schlosses. Es war jahrzehntelang nicht benutzt worden, ehe Aura seine Behaglichkeit für sich wiederentdeckt hatte. In den vergangenen Jahren hatte sie sich immer dann hierher zurückgezogen, wenn sie der Arbeiten im Laboratorium überdrüssig geworden war. Hier, im äußeren Westflügel, ein Stockwerk über der Familienbibliothek, fand sie die Ruhe, über sich nachzudenken.
    Vor den Bleiglasfenstern war die Nacht heraufgezogen. Ein alter Kronleuchter hing ungenutzt an der Decke; die einzige Lichtquelle im Raum war die Glut im Kamin.
    Das Feuer verbreitete wohlige Wärme. Während sie miteinander sprachen, blickten Aura und Christopher unablässig in die Flammen. Aura erinnerte sich an etwas, das sie einmal gelesen hatte: Liebende sehen einander an, Freunde in dieselbe Richtung. Sie fragte sich, ob das bedeutete, daß Christopher und sie Freundschaft geschlossen hatten.
    Vielleicht war eher

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