Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Wahrheit endet und das Wunschdenken seinen Anfang nimmt.
Als Aura und Christopher die Kinder hinauf in den Dachgarten riefen, wußten sie beide, wie vage ihre Vermutungen und wie schwach ihre Aussicht auf Erfolg war. Sie nahmen an, daß es die Mühe wert war, sie hofften, daß sie recht behalten würden – und zumindest Christopher betete insgeheim für das Gelingen ihres Experiments. Der Glaube ersetzte rationales Denken, die Zuversicht den Zweifel.
Daß sie dennoch recht behielten, überraschte sie beide.
Gian und Tess hatten den Dachgarten kaum betreten, als ihre Schritte langsamer, ihre Blicke trüber wurden. Aura ging zwischen ihnen, hielt beide an der Hand, während Christopher am Athanor stand und ihnen so nervös wie aufmerksam entgegenblickte.
Aura spürte, wie der Druck der kleinen Hände auf ihre eigenen stärker wurde. Beim Frühstück hatten die Kinder miteinander gescherzt, und zum ersten Mal hatte Aura Tess lachen sehen. Sie fragte sich, ob das, was sie hier taten, dieser Entwicklung wohl schaden würde. Alles, was sie hatten, waren pure Mutmaßungen, reichlich verrückte noch dazu, und doch schien dies der einzige Weg zu sein, Lysander auf die Spur zu kommen.
Es war Auras Idee gewesen, es über die Kinder zu versuchen, und Christopher hatte vorgeschlagen, die beiden dorthin zu führen, wo die Atmosphäre am stärksten war. Ob das irgendeinen Einfluß auf das Endergebnis haben würde, war ungewiß, ja zweifelhaft.
Der Himmel hing tief und grau über dem Glasdach, doch an einer Stelle im Osten war die Wolkendecke aufgeklafft. Inmitten dieser Wunde aus wogendem Dunst stand die Sonne wie ein glühendes Herz und sandte ihre Strahlen über das Küstenland und die rauhe See. Ihr Licht erhellte auch den Dachgarten, umriß die tropische Pflanzenwand mit Feuer und brach sich in den Augen der Kinder. Es war Zufall, gewiß, und doch schien es, als wolle die Natur das Wunderbare des Geschehens hervorheben.
»Gian«, wandte Aura sich an ihren Sohn und ließ die Hände der Kinder los, »ich möchte, daß du versuchst, dich an etwas zu erinnern.« Tatsächlich war es viel eher Tess, von der sie etwas erfahren wollte, doch Gian war der Ältere, und es schien sicherer, es zuerst mit ihm zu versuchen.
Die Kinder standen da wie in Trance und blickten der gleißenden Sonne entgegen. Gian legte den Kopf leicht schräg. »Ja, Mama?«
»Erinnerst du dich an deinen Großvater?« fragte sie. Ein Kloß saß in ihrem Hals, ihre Stimme klang fremd.
»Natürlich erinnere ich mich an ihn.« Nestor war bei Gians Geburt längst tot gewesen, aber niemand stellte die Antwort des Jungen in Frage.
Aura ging vor den Kindern in die Hocke und nahm erneut ihre Hände. Als sie so den Kontakt zwischen den beiden schloß, kam es ihr einen Moment lang vor, als durchzucke sie so etwas wie ein sanfter Stromstoß.
»Kannst du dich an die Zeit erinnern, als Großvater ein junger Mann war?«
»Ich glaube, ja«, erwiderte Gian dumpf.
Christopher trat langsam von hinten an sie heran. »Es funktioniert«, flüsterte er staunend. Keiner von ihnen hatte wirklich mit einem Erfolg gerechnet, schon gar nicht so schnell.
»Erzähl mir, an was genau du dich erinnern kannst«, bat Aura.
»Weißt du, wie seine Eltern aussahen?«
»Nein.« Das Wort hallte sekundenlang über den Dachboden, hart und enttäuschend. Doch ehe Aura eine weitere Frage stellen konnte, fuhr Gian fort: »Damals hat Großvater komische Sachen getragen. Ein Nachthemd.«
Aura und Christopher wechselten einen ratlosen Blick.
»Er hat auf einem Pferd gesessen«, sprach Gian weiter. »Ich kann mich genau erinnern. Großvater war ein guter Reiter. Einmal ist er mit seinem Pferd über eine Felsspalte in den Bergen gesprungen, die war sehr breit und sehr tief.«
»Weißt du noch, wie es war, als er zur Schule ging?«
»Keine Schule.« Gians Blick war immer noch der Sonne zugewandt, als wäre sie es, die ihm die Bilder eingab. »Oder doch … Es gab so etwas wie eine Schule. Ein großes dunkles Haus.«
»Kannst du dich erinnern, wo es stand?«
»Rundherum war Wald. Und Berge. Hohe Berge.«
Aura kam ein Gedanke, doch sie schüttelte ihn ab. Unmöglich! Dennoch, eine Ahnung blieb. Das SanktJakobus-Stift war sicher nicht immer ein Mädcheninternat gewesen. Vielleicht hatte es dort früher auch Jungen gegeben.
Sie wollte weiterfragen, als plötzlich Tess das Wort ergriff. Ihr helles Stimmchen klang belegt, so als sei sie gerade erst aus dem Schlaf erwacht. »Ich kann mich auch
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