Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
links des Weges tauchten Kinder auf, die neugierig und plappernd die Ankunft der beiden Fremden beobachteten. Ein paar Erwachsene gesellten sich dazu, meist Frauen, denn die Männer waren mit ihren Ziegen unterwegs im Gebirge. Der Geruch nach gebratenem Fleisch, aber auch nach Fäkaliengruben hing durchdringend zwischen den Häusern.
Die drei führten ihre Pferde an den Zügeln. Die Hufe der Tiere klapperten hart über loses Geröll. Befestigte Wege gab es nicht. Vor einem der höchsten Türme kam ihnen eine alte Frau entgegen.
»Meine Mutter«, erklärte Marie und lief der Alten entgegen. Die beiden Frauen umarmten sich und wechselten lachend einige Sätze auf swanisch. Dann deutete Marie auf Aura und Christopher, die unentschlossen abseits standen. Sogleich verfinsterte sich der Blick der Alten. Schließlich aber nickte sie stumm.
»Kommen Sie ins Haus«, bat Marie und verschwand gleich darauf mit ihrer Mutter im Inneren einer Hütte, die schräg an der Seite des Turmes lehnte.
Christopher warf Aura einen fragenden Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Achseln. »Sieht aus, als kämen wir nicht drumherum.«
Sie band ihr Pferd an einen Pfahl, warf einen prüfenden Blick durch die niedrige Tür, dann trat sie ein. Christopher folgte ihr zögernd.
Von innen wirkte das Haus viel größer als von außen. Es bestand aus einem weiten Raum, etwa acht mal acht Meter groß. An den blanken Mauern hingen die Hörner mächtiger Steinböcke. Hinter einer halbhohen hölzernen Trennwand lag schmutziges Stroh; hierher wurden die Ziegen getrieben, wenn sie am Abend von den Hochalmen zurückkehrten. Der Gestank war überwältigend. Es roch nach Unrat, Vieh und Essensresten. Am schlimmsten aber empfand Aura den Odem des Alters, der das Haus erfüllte. Marie schien von alldem nichts wahrzunehmen, während Christophers Lippen leicht offenstanden; wie Aura bemühte er sich, durch den Mund zu atmen.
In der Mitte des Wohnraumes befand sich eine Feuerstelle, über der ein gewaltiger Kupferkessel hing. Marie bat sie, im Kreis um das Feuer Platz zu nehmen.
»Wir nennen unsere Häuser Matschuben«, erklärte sie, als alle auf Fellen am Boden saßen. »Das hier« – sie deutete auf das Feuer – »ist die Kera. Sie ist Mesir, dem Gott der Feuerstelle, geweiht. Es ist Sitte, stets ein Gedeck für ihn bereitzuhalten.« Während sie sprach und weitere Einzelheiten der swanetischen Lebensweise erläuterte, schöpfte ihre Mutter eine fette Brühe aus dem Kessel in hölzerne Schalen. Obwohl Aura die Nähe der alten Frau Übelkeit bereitete – ein Gefühl, an das sie sich allmählich zu gewöhnen begann –, roch die Suppe vorzüglich. Sie nahm einen Schluck, und nickte Maries Mutter anerkennend zu. Die Frau schien sich darüber zu freuen, denn zum ersten Mal schenkte sie Aura ein freundliches Lächeln.
»Ich dachte, die Swanen seien orthodoxe Christen«, bemerkte Christopher.
Marie lächelte nachsichtig. »Im Grunde genommen, schon. Aber jeder hier hat ein anderes Bild vom Christentum. Je weiter man sich von der Küste entfernt, und je höher man in die Berge steigt, desto mehr alte Götter haben im Glauben der Menschen ihren Platz. Du würdest dich wundern, wenn du ein paar der alten Rituale miterleben könntest.«
Aura entging keineswegs, daß Marie Christopher neuerdings duzte. Das lag nicht etwa an mangelndem Sprachgefühl; sie kannte sehr wohl den feinen Unterschied zwischen den Anredeformen. Was Aura anging, beharrte die Swanin strikt auf dem förmlichen »Sie«. Sie machte keinen Hehl daraus, wem ihre Sympathien galten.
Aura gab es nach einer Weile auf, Maries Ausführungen zu folgen. Es drängte sie, den Weg zum Templerkloster fortzusetzen, Lysander gegenüberzutreten und Sylvette endlich wiederzusehen. Dabei entdeckte sie in sich eine gefährliche Gleichgültigkeit über den Ausgang der Konfrontation. Sie hatte einen so weiten Weg hinter sich gebracht, daß ihre Absicht allmählich zu verschwimmen drohte. Lysander vernichten? Sylvette retten? Sicher, all das war wichtig, aber die Prioritäten verschoben sich. Plötzlich war es bedeutsam, zum Ende zu kommen, gleichgültig, wie es ausfallen mochte.
Sie bemerkte, daß das Gespräch zwischen Christopher und Marie immer vertrauter wurde. Sogar ihrem Stiefbruder gegenüber begann sie, sich wie eine Fremde zu fühlen. Vielleicht war es Heimweh, vielleicht auch Verzweiflung. Auf jeden Fall war ihr zum Heulen zumute.
»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich barsch, »wenn ich eure
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