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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schätze Swanetiens machen.«
    Aura hatte vor dem Aufbrach in Suchumi ihr schwarzes Kleid gegen enge braune Reiterhosen, ein weites Hemd aus grobem Stoff und eine Weste eingetauscht. Wie die beiden anderen trug sie eine lange Felljacke, die bis auf ihre Oberschenkel reichte. Handschuhe trugen sie nur nachts; tagsüber bewahrte sie die Sonne vor allzu großer Kälte.
    Sie hatten sich dem Dorf von Süden her genähert. In den vergangenen drei Tagen, seit ihrer Abreise aus Suchumi, war dies die erste menschliche Ansiedlung, die sie betraten. Um alle anderen Ortschaften, die sie aus der Ferne in den grünen Tälern Oberswanetiens gesehen hatten, hatten sie auf Anraten Maries einen weiten Bogen geschlagen. Es sei selbst für sie als Swanin unsicher, sich in einige dieser Dörfer zu wagen; für Ausländer aber sei es lebensgefährlich.
    Uschguli lag in einer Vertiefung, die die Natur in einen öden, von dürrem Gras bewachsenen Berghang gegraben hatten. Die Bewohner nannten das Dorf die »Krone des Kaukasus«, was Aura mit gehörigem Unverständnis erfüllte; die Ansammlung grober Steinhäuser und hoher, fensterloser Türme schien ihr alles andere als königlich. Marie aber erklärte, der Titel rühre von Uschgulis Lage am Ende des Inguri-Tals. Als höchster Ort des Landes genieße es das Privileg, sich als »Krone« zu bezeichnen. Nicht einmal die feindlichen Swanensippen in den Tälern hätten dies je angezweifelt, und Aura tue gut daran, sich mit ihrem Sarkasmus zurückzuhalten. Auras verbitterten Hinweis, daß sie hier sowieso kein Mensch verstehen könne, ließ die Swanin unkommentiert.
    Maries Heimatdorf glich einem steinernen Wald. Uralte Wohn- und Wehrtürme bestimmten das Bild. Ähnliche Bauten hatte Aura auf Bildern aus Italien gesehen – die Türme von Florenz kamen ihr unwillkürlich in den Sinn –, doch hier, am Ende der Welt, schien ihr solche Architektur befremdlich und geheimnisvoll. Rund vierzig dieser Türme zählte sie, meist in Verbindung mit einem niedrigen Haus mit graubraunem Ziegeldach. Dreißig, vierzig Meter hoch ragten sie wie Schlote einer phantastischen vorzeitlichen Fabrikanlage in den blauen Gebirgshimmel. Die Sonne stand bereits tief über den Gipfeln, und jeder Turm warf einen dunklen, langgestreckten Schatten.
    Marie ermunterte sie, ihr ins Dorf zu folgen. »Keine Sorge«, sagte sie lachend. »Solange ich bei Ihnen bin, wird Ihnen niemand ein Haar krümmen.«
    Den alten Mann, der sie angesprochen hatte, ließen sie am Wegrand stehen. Zu ihrem Entsetzen entdeckte Aura im Vorbeigehen, daß in seinem Gürtel ein Revolver steckte, ein klobiges, altertümliches Modell. Der Griff war blank und abgenutzt. Der Blick des Alten folgte ihnen voller Mißtrauen.
    »Wovon leben die Menschen hier?« fragte Christopher. »Von Ziegen und von Gold.«
    »Ich habe gar keine Minen gesehen.«
    »Es gibt keine. Die Männer legen ein Widderfell mit der Wollseite nach oben in einen Bergbach. Wenn sie Glück haben und das richtige Gebiet erwischen, verfangen sich mit der Strömung kleine Goldkörnchen in dem Fell, und dadurch –«
    »Entsteht ein Goldenes Vlies.« Christophers Blick verriet Begeisterung, aber, wie Aura mit Mißfallen bemerkte, nicht allein für die Legende und das Gold der Swanen. Vielmehr machte er aus seiner Zuneigung für Marie längst kein Geheimnis mehr, und manchmal schien es Aura, als würde die hübsche Swanin seine Bemühungen erwidern. Nun, dachte sie resigniert, vielleicht erhöhte das die Chancen, heil zurück zur Küste zu kommen.
    »Was haben all die Türme zu bedeuten?« fragte Aura, um sich abzulenken.
    »In Swanetien herrscht das Gesetz der Blutrache«, entgegnete Marie, ohne sich zu ihr umzusehen. »Wenn nicht gerade ausländische Invasoren über die Berge kommen, liegen die Sippen miteinander im Streit. Die Türme dienen zur Verteidigung, aber sie sind auch Symbol des Reichtums einer Familie und der Kraft ihrer Söhne.«
    Sie traten jetzt in die vorderen Schatten der hohen, schlanken Bauwerke. Aus der Nähe wirkten die meisten alt und baufällig. Aura überlegte, daß sie sich mit solch einem Turm neben ihrem Haus schwerlich sicher fühlen würde; die meiste Zeit würde sie wohl fürchten, das Ding könne ihr auf den Kopf fallen. Selbst jetzt widerstrebte es ihr, am Fuß der windschiefen Mauern vorbeizugehen. Auch Christopher war auffällig still geworden. Nur Marie lächelte wortlos in sich hinein und fand sichtliche Freude an der Unsicherheit ihrer Begleiter.
    Rechts und

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