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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mit ausgestrecktem Arm nach Osten. »Dahinter liegt das Kloster.«
    Sie waren noch in der Nacht aufgebrochen, nach nur wenigen Stunden Schlaf. Sie waren schneller vorangekommen, als Marie befürchtet hatte. Manchmal, so hatte sie erklärt, falle hier um diese Jahreszeit bereits Schnee, und die Wetterfühligen im Dorf hätten einen frühen Winter vorausgesagt.
    Doch zu ihrer aller Erleichterung zeigte sich weder Schnee noch Regen. Der Himmel über den weißen Gipfeln war von azurnem Blau, Raubvögel schwebten vor einsamen Federwolken. Die Almwiesen an den Berghängen leuchteten in frischem Grün. Ihr Anblick erinnerte Aura schmerzlich an ihre Monate in der Schweiz, mit dem Unterschied, daß hier alles höher, steiler, gewaltiger war. Das Panorama des Gebirges hätte sie zu jedem anderen Zeitpunkt mit seiner Schönheit überwältigt.
    Marie hatte insgesamt achtzehn Männer angeworben, zwei weniger, als sie angekündigt hatte. Einige hätten sich überraschend geweigert, ihre Herden zu vernachlässigen, aber das sei nur eine Ausrede gewesen. Tatsächlich, so meinte sie, fürchteten sie wohl die uralte Macht des Klosters. In gewisser Weise war es beruhigend, daß auch Marie sich irren konnte; dadurch fühlte Aura sich ihr nicht mehr ganz so ausgeliefert wie bisher.
    Sie trieben ihre Pferde schneller voran, bis sie den Bergkamm fast erreicht hatten. Marie hob die Hand und ließ alle übrigen anhalten. Die achtzehn Swanen in ihrem Gefolge waren rauhe, schweigsame Männer, gekleidet in Felle und dicke Leinenkleidung. Alle hatten schwarzes Haar, die meisten mächtige Schnurrbärte. Einige trugen Patronengürtel und goldene Ohrringe. An jedem Sattel steckte ein Gewehr, meist alte Büchsen, sicher nicht zielgenau, aber von durchschlagender Gewalt. Viele besaßen Revolver. Sogar einige Krummsäbel hatte Aura entdeckt. Sie hatte den Männern den Lohn bereits ausgezahlt; sie hatten die Münzen ohne ein Wort in ihren Taschen verschwinden lassen.
    Marie deutete plötzlich auf einen Felsen, links von ihnen. Darauf stand ein mächtiger Widder. Aura hatte nie zuvor einen gesehen, aber dieser hier übertraf selbst ihre Vorstellung an Größe um mindestens das Doppelte. Seine Hörner waren lang und breit und herrlich geschwungen. Er starrte die Reiter aus dunklen Augen an, still und erhaben auf seinem Felsen, und erst als ein unruhiges Raunen durch die Männer ging, drehte er sich langsam um und sprang graziös aus ihrem Blickfeld.
    Marie war bleich geworden, und als Aura sie fragte, was los sei, erwiderte sie zögernd: »Die Männer glauben, daß dies ein böses Omen ist.« Sie sagte zwar »die Männer«, aber ihr Tonfall machte deutlich, daß auch sie dasselbe dachte.
    Christopher rückte sich unruhig im Sattel zurecht. »Wir werden uns doch jetzt nicht mit irgendwelchem Aberglauben herumschlagen müssen, oder?«
    »Nein«, gab Marie tonlos zurück, »natürlich nicht.« Sie rief den Männern etwas zu, und sogleich verstummte das Flüstern.
    Sie hat diese Kerle gut im Griff, dachte Aura beeindruckt. Ihr kamen Zweifel, ob das wirklich nur an der guten Bezahlung lag, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wer ihr eigentlich garantierte, daß die Männer nicht plötzlich über sie herfallen und ihr auch den Rest ihres Geldes rauben würden.
    »Das letzte Stück sollten wir ohne Pferde zurücklegen«, schlug Marie vor. »Zu Fuß können wir es schaffen, ungesehen durch die Felsen bis nah an das Kloster heranzukommen. Dort wachsen auch Büsche und Sträucher, die eine gute Tarnung abgeben. Als ich noch ein Kind war, galt es als Mutprobe, sich möglichst weit an die Mauern heranzuwagen. In den letzten hundert Jahren haben die Herren des Klosters ihre Verteidigung ziemlich vernachlässigt. Selbst hier in Swanetien ist das Mittelalter vorbei.«
    Aura fielen einige Argumente ein, die dagegen sprachen, aber sie behielt sie für sich. Statt dessen stieg sie wie alle anderen vom Pferd und folgte Marie gebückt bis zur Kuppe des Berges. Dort ließ sich die ganze Gruppe ins Gras sinken und sah auf den Bäuchen liegend in das Tal, das sich vor ihnen ausbreitete.
    Die Sträucher und Büsche, von denen Marie gesprochen hatte, entpuppten sich als karges Kraut, das ihnen gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Eindrucksvoller war das Gewirr aus Felsspalten, das sich an der Rückseite des Berges bis hinab zur Talsohle erstreckte. Von dort, wo es endete, bis zur Klostermauer waren es noch knapp fünfzig Meter durch offenes Gelände.
    Das Kloster selbst

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