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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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straffte sich mühsam. »Hast du … hast du es geschafft?«
    »Sicher.« Giacomos faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Mit der freien Hand rieb er sich die schmerzende Schulter. »Die Tür zum Dachboden ist offen.«
    Aura ließ sich Zeit, während sie die steinerne Wendeltreppe hinaufstieg. Die gespannte Waffe in ihrer Hand hätte sie beruhigen müssen, doch statt dessen war genau das Gegenteil der Fall: Der Revolver erinnerte sie nur noch schmerzlicher an ihre Lage, an die Gefahr, das Risiko.
    Die breiten Stufen führten stetig nach oben. Es gab keine Zwischenetagen, keine offenen Stockwerke. Die Wände waren fensterlos und aus dem gleichen sandfarbenen Stein wie die Stufen. Die einzelnen Blöcke waren grob behauen, als sei das ganze Gebäude in großer Eile entstanden – damals, vor siebenhundert Jahren.
    Aura wußte, daß der Zahl Sieben seit jeher magische und alchimistische Kräfte nachgesagt wurden, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob es Zufall war, daß diese Ziffer auch immer wieder Einfluß auf ihr Leben nahm: Siebenhundert Jahre waren seit dem ersten Untergang des Templerordens vergangen, sieben Jahre seit Auras Kampf gegen Lysander – die selben sieben Jahre, die das Gilgamesch-Kraut benötigt hatte, um seine Reife zu entfalten.
    Irgendwo über ihr, jenseits der Treppenbiegung, ertönte ein Geräusch. Das Rascheln weiter Stoffe. Aura blieb stehen. Ihr Atem stockte. Sie nahm all ihren Mut zusammen, drückte sich mit dem Rücken gegen die äußere Wand, zielte mit dem Revolver zur Biegung empor.
    Der Schein der Fackel, die am Fuß der Treppe in einer Wandhalterung brannte, war weiter unten zurückgeblieben; nur ein schwaches Schimmern drang noch herauf. Jetzt aber wurde das Dämmerlicht von einem Glimmen erhellt, das sich von oben her näherte. Das fahle Flackern projizierte einen Schatten auf die Wand, erst nur ein formloser Schemen, der sich aber im Näherkommen mehr und mehr zu den Umrissen einer Gestalt verdichtete. Leichtfüßige Schritte ertönten.
    Dann fragte eine zaghafte weibliche Stimme: »De Dion? Sind Sie das?«
    Eine Hand, die eine Kerze hielt, erschien hinter der Treppenbiegung, gefolgt von einem schlanken Arm. Ein weißes Kleid. Langes, lockiges Haar, hellblond an den Wurzeln, schwarz an den Spitzen, die Färbung zur Hälfte herausgewachsen. Ein schmales, verletzliches Gesicht. Dunkle Ringe unter hellblauen Augen.
    »Sylvette?« fragte Aura vorsichtig, und dann, als sie das plötzliche Erkennen im Blick der jungen Frau entdeckte, noch einmal: »Sylvette!«
    Sie ließ die Waffe sinken, sprang die letzten Stufen hinauf und schloß ihre Schwester in die Arme. Sylvette war für einen Augenblick starr und teilnahmslos vor Schreck, dann aber ließ sie schlagartig die Kerze fallen und erwiderte die Umarmung voller Freude, lachend und weinend zugleich. Auch Aura schossen die Tränen in die Augen. Eine halbe Minute lang konnte sie an nichts anderes denken als daran, Sylvette endlich wiedergefunden zu haben. Keinen Gedanken verschwendete sie an diesen Ort, an de Dion, an das, was vorher geschehen war. Sie spürte Sylvette in ihren Armen, ihr helles Gelächter an ihrem Ohr, so erleichtert, so begeistert, und das war alles, was in diesen Augenblicken zählte.
    Irgendwann lösten sie sich wenigstens soweit voneinander, daß sie einander in die Gesichter blicken konnten. Die Ringe unter Sylvettes Augen und ihre eingefallenen Wangen versetzten Aura einen Stich, genau wie die Furchtsamkeit in ihrem Blick, die Hilflosigkeit, die Suche nach einem Rat, den niemand ihr geben konnte. Und doch: Es war Sylvette, mit jeder Faser, mit jeder Regung, jedem Laut! Sogar ihr kindliches Lachen war das gleiche geblieben.
    »Was machst …« – Sylvette verschluckte sich beim Sprechen – »ich meine, was tust du hier?«
    Ein Wirrwarr von Worten, möglichen Erklärungen, Beteuerungen, sogar Entschuldigungen, toste durch Auras Kopf. Doch als sie schließlich die Sprache wiederfand, sagte sie nur: »Ich bringe dich nach Hause.«
    »Nach … Hause?«
    Mit bebender Stimme sagte Aura: »Ins Schloß. Zu Tess. Und zu Mutter.«
    Ein trauriges Lächeln spielte um Sylvettes kleinen Mund. Zum ersten Mal bemerkte Aura, daß er aussah wie eine knospende Rosenblüte – oder eine, die bereits welkte. »Mutter«, wiederholte Sylvette voller Wehmut. »Wie geht es ihr?«
    Es fiel Aura schwer, darauf eine Antwort zu finden. »Ich glaube, sie vermißt dich.«
    »Und Nestor?« Sie nannte ihn nicht Vater.
    Dann weiß sie es

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