Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Jahr. Damals hatte er im Kreis der Familie von Eingeborenen erzählt, die ihre Körper an den verrücktesten Stellen mit Schmuck behängten.
Aura aber trug die Ringe an ihren Schenkeln nicht als Zierde. Sie wußte, sie würde sich an die Torturen des Internats gewöhnen, würde abstumpfen. Die Ringe aber sollten sie stets daran erinnern, an die Qual, an den Verrat, den ihr Vater an ihr begangen hatte. Nestor ließ zu, daß Aura fortgeschickt wurde, zweifellos auf Wunsch ihrer Mutter. Aura war sicher, daß das Internat Charlottes Einfall gewesen war. Nur sie konnte auf etwas so Gemeines, so Grausames gekommen sein.
Mit jedem Monat, der verging, wollte Aura einen Ring aus ihrer Haut entfernen. So würde sie nie vergessen, was ihre Familie ihr angetan hatte. Und was war das leichte Brennen in ihren Schenkeln schon gegen den viel größeren Schmerz ihrer Abschiebung?
Aura hatte kaum ihr Kleid übergestreift, als es an der Tür klopfte. Eilig zog sie den Saum herunter. Niemand durfte von den Ringen erfahren.
»Wer ist da?« fragte sie, während sie mit fliegenden Fingern die Verschlüsse am Rücken einhakte. Der letzte klemmte, wie üblich.
»Ich bin’s.« Die Tür ging auf, und Charlotte trat ein.
Großartig, dachte Aura resigniert. Wie gerufen.
Ihre Mutter trug eines ihrer heißgeliebten Hauskleider – Gute-Laune-Kleider, nannte sie sie –, so grell und bunt, daß die aufgesetzte Fröhlichkeit der Farben jedem ins Auge springen mußte. Aber es wäre verschenkte Mühe gewesen, Charlotte darauf hinzuweisen. Außerdem war es lange her, daß Aura und sie über so belanglose Dinge wie Mode gesprochen hatten. Es gab doch so viel Wichtigeres – sich zu streiten, beispielsweise.
Bevor sie etwas sagte, trat Charlotte hinter ihre Tochter und half ihr mit dem Verschluß des Kleides.
»Danke«, sagte Aura ohne Wärme. Sie setzte sich auf die Bettkante und fädelte Schnürriemen in ihre wadenhohen Schuhe. Sie waren aus weichem, dunkelgrünem Leder. Auras Lieblingsschuhe. Sie trug sie, so oft es nur ging.
»Bleibt Friedrich zum Frühstück?« fragte sie in Ermangelung eines besseren Themas. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihre Mutter von ihr wollte. Es kam selten vor, daß Charlotte sie in ihrem Zimmer aufsuchte.
»Er ist schon abgereist«, erwiderte Charlotte und trat ans Fenster. Es zeigte zwei Ferkel und einen Schwan mit spitzen Hörnern, die aus der Öffnung eines großen Kessels blickten. Aura hatte das Motiv seit jeher verabscheut, doch in letzter Zeit war es ihr kaum mehr aufgefallen.
Das bunte Licht, das durch das Glasmosaik hereinfiel, machte die Farben von Charlottes Kleid noch unerträglicher.
»Da er fort ist, nehme ich an, daß du schon gefrühstückt hast«, sagte Aura.
»Mit Friedrich, ja.« Charlotte bemerkte zu spät, daß es dieser Bestätigung kaum bedurft hätte. »Das Boot hat ihn vor einer Stunde an Land gebracht. Aber das dürfte dich nicht allzu traurig stimmen, nicht wahr?« Jetzt klang sie fast ein wenig bedrückt.
Bitte, dachte Aura, nicht am frühen Morgen. Sag schon, was du willst, und dann laß mich in Ruhe!
Aber Charlotte machte keine Anstalten, wieder zu gehen. Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihrer Tochter um. In ihrem Kleid sah sie nun selbst aus wie ein Teil des Fenstermosaiks.
»Ich möchte von dir wissen, weshalb du dich so aufführst.«
»Wie führe ich mich denn auf?« Aura schnürte in aller Ruhe ihre Schuhe zu. Innerlich aber berührten sie Charlottes Worte. Natürlich wußte sie, was ihre Mutter meinte, aber es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen. So schwer, wie es Daniel fiel, mit ihr über seine Probleme zu reden. Zum Beispiel letzte Nacht.
»Du bist scheußlich zu mir, aber das ist nichts Neues«, sagte Charlotte müde. »Aber seit ein paar Tagen behandelst du jeden hier, als wäre er dein Feind. Sogar mit Daniel scheinst du dich nicht mehr zu verstehen. Und Christopher hast du nicht einmal eine Chance gegeben.« Sie trat näher an Aura heran und blieb einen Schritt vor ihr stehen. Ihre Stimme war voller Mitgefühl, ehrlichem Mitgefühl, und das verunsicherte Aura zutiefst. »Ist es wirklich nur wegen des Internats?«
Auras Kopf ruckte hoch. Ihre Augen funkelten Charlotte an. » Nur wegen des Internats? Das ist nicht dein Ernst, oder? Das Internat dürfte wahrlich Grund genug sein.«
»Du gibst mir die Schuld dafür?«
»Wem sonst? Du hast veranlaßt, daß ich dorthin muß!«
»Das ist nicht wahr!« Charlottes Miene war ungewohnt starr
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