Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
die See wogte, legte sich wie ein erdrückender Dunst auf seine Lungen. Er begann zu schwitzen, trotz der Kälte. Mit jedem Schritt wuchs seine Furcht, und nur die Tatsache, daß auch Charlotte und Friedrich diesen Weg gegangen waren, bewahrte ihn vor einem abrupten Rückzug.
Er mochte siebzig oder achtzig Meter weit gegangen sein, immer stur geradeaus, als der Gang allmählich wieder nach oben führte. Nach weiteren zehn Schritten veränderte sich die Decke, sie sah aus, als bestünde sie aus festgepreßtem Erdreich. Er mußte sich jetzt unter einem der fünf Eilande befinden, die die Schloßinsel umgaben. Einen Augenblick später erkannte er, unter welchem.
Wie angewurzelt blieb er stehen und unterdrückte mühsam einen Aufschrei. Über ihm, vom Licht des schaukelnden Öllichts grob umrissen, ragten bizarre Formen aus der Decke. Es waren Särge, manche noch intakt, andere bereits zerfallen. Sie hatten ihre Kanten und Ecken durch die Erde getrieben, und dort, wo das Holz längst verrottet war, ragten uralte Gebeine in den Stollen, von Alter und Schmutz verkrustet. Christopher erkannte im flackernden Zwielicht Schädel und Rippenkäfige, Arme und Beine, die wie ein makaberer Lampenschmuck herabbaumelten. Spinnen hatten ihre Netze zwischen den Knochen gewoben; die grauen Fetzen wehten gespenstisch im unterirdischen Luftzug.
Auf der Friedhofsinsel hatten schon die alten Freibeuter ihre Toten begraben. Augenscheinlich hatten die Jahrhunderte ihre Überreste durch das Erdreich nach unten wandern lassen, bis sie schließlich durch die Stollendecke stießen.
Nichts, wovor du Angst haben müßtest, sagte Christopher sich immer wieder. Keine Sorge, wirklich, hier ist nichts mehr, das lebt!
Doch das war ein schwacher Trost angesichts eines solchen Anblicks. Gebückt schlich er unter den Knochen hindurch, jederzeit in der Erwartung, eines der morschen Glieder könne ihn packen, ihn für seine Neugier bestrafen. Nun, er glaubte nicht wirklich daran, aber allein die Vorstellung ließ ihn heftiger frösteln. Er vermutete, daß die beiden einen markierten Weg durch diesen Irrgarten aus Leichenteilen genommen hatten, doch als er dies erkannte, war er bereits zu weit vorgedrungen, um jetzt noch danach zu suchen.
Er hatte etwa die Hälfte der Strecke unter dem Friedhof hinter sich gebracht, als er weiter vor sich abermals Treppenstufen erblickte. Sie führten nach oben, durch eine Öffnung in der Decke. Jetzt hörte er auch wieder leise Stimmen, ohne die Worte verstehen zu können. Siedendheiß fiel ihm ein, daß sein Lichtschein von oben zu sehen sein mußte. Daß er noch nicht entdeckt worden war, hatte er wohl nur dem Umstand zu verdanken, daß Charlotte und Friedrich anderweitig beschäftigt waren.
Schweren Herzens verdeckte er die Flamme seiner Lampe und pirschte weiter. Die Dunkelheit war jetzt nahezu vollkommen, nur durch die Deckenöffnung fiel ein zartes Kerzenflackern. Prompt stieß er im Finstern gegen knorriges Gebein, Spinnweben streiften seine Wangen, und ihm wurde so elend zumute, daß er sich auf der Stelle übergeben wollte. Doch sogar das unterdrückte er, aus Angst vor Entdeckung.
So erreichte er zitternd die Treppenstufen, verharrte und horchte. Das Geflüster der beiden war jetzt zu heftigem Atmen geworden, durchsetzt von Charlottes sanften Seufzern. Minutenlang konnte Christopher sich nicht entscheiden, stand einfach nur da und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Schließlich aber schlug seine Furcht in Erregung um, und er erklomm lautlos die unteren Stufen. Über der Öffnung lag ein Schacht, der nach zwei Metern an einer offenen Falltür endete. Darüber befand sich ein überdachter Raum, wohl eine Art Leichenhalle im Zentrum der Friedhofsinsel.
Vorsichtig blickte Christopher über den Rand der Falltür. Sie war sternförmig von zwölf Podesten umgeben, auf denen man einst die Toten aufgebahrt hatte. Der Raum hatte eine kreisrunde Form, und am Kopfende eines jeden Podests war eine Steintafel in die Wand eingelassen. Dahinter waren die Ahnen der Familie Institoris zur letzten Ruhe gebettet. Die Baumeister dieser Anlage hatten sogar an das Wohlbefinden der Trauernden gedacht, denn es gab einen offenen Kamin, in dem ein Feuer flackerte. Wahrscheinlich war Friedrich schon am Nachmittag hiergewesen, um die Flammen zu schüren.
Auf jedem Podest stand am vorderen Rand eine Kerze – außer auf einem. Es war mit Decken und Kissen bedeckt, und darauf lagen im gelben Kerzenschein zwei schimmernde
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