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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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saßen die beiden nebeneinander und tauchten die Ruder ins Wasser.
    Hinter ihnen auf dem Steg erschienen Konrad und die beiden Dienstmädchen. Nur Charlotte war nirgends zu sehen.
    »Hier!« rief der alte Diener ihnen nach.
    Etwas kam auf sie zugeflogen. Christopher löste eine Hand vom Ruder und schnappte es auf. Es war ein ungeöffnetes Päckchen mit sechs Schrotpatronen.
    »Für alle Fälle!« Konrads Stimme bebte noch immer.
    »Geben Sie gut auf sich acht, meine Herren!« rief eines der Dienstmädchen, doch Christopher und Daniel hörten es kaum mehr.
    Schweigend und mit vereinten Kräften ruderten die Stiefbrüder die Jolle Richtung Festland.
    Gillian hatte viel geredet in dieser Nacht, und Aura hatte die meiste Zeit über stumm und betroffen zugehört. Und als sie am frühen Morgen Wien erreichten, da wurde die Zuneigung, die sie für ihren sonderbaren Begleiter verspürte, nur noch von ihrem Haß auf Lysander übertroffen.
    Kurz vor ihrer Ankunft wechselte Gillian in der Zugtoilette seine Kleidung, und als er ins Abteil zurückkehrte, war er wieder zum Mann geworden. Sein Gesicht war das gleiche wie zuvor, doch schien der Gedanke, es habe noch vor Minuten einer Frau gehört, durch und durch abwegig. Je länger Aura ihn in Hose und Hemd sah, desto schneller verblaßte die Erinnerung an seine Weiblichkeit. Es war fast, als verschmolzen vor ihren Augen zwei Geschlechter zu einer einzigen Person, die nur kraft ihres Willens bestimmte, welche der beiden Seiten sie zur Schau trug. Allein die schwer zu bestimmende Schönheit, die in Gillians Zügen lag, blieb von dieser Wandlung unangetastet.
    Aura fragte kein zweites Mal, was ihm die Macht dazu verlieh. Er hätte vermutlich wieder mit einem spröden »Veranlagung« geantwortet, und sie wußte, das würde sie wütend machen. Also ließ sie es bleiben und geduldete sich, bis er ihr irgendwann von selbst die Wahrheit sagen würde – oder auch nicht.
    In einem Schließfach des Westbahnhofs hatte Gillian einen Papierumschlag mit einigen Schillingnoten deponiert, nicht viel, aber zusammen mit dem, was er der Frau in Zürich gestohlen hatte, genug, um ihnen ein paar Tage über die Runden zu helfen.
    Sie nahmen eine Droschke, die sie auf Gillians Anweisung zu einem kleinen Hotel nahe des Hofgartens brachte, der einzigen Pension im Umkreis der Hofburg, die sie sich mit dem wenigen, das sie besaßen, leisten konnten. Vom Fenster ihres Zimmers aus blickten Sie über die Parkanlagen hinweg bis zu den Mauern der Burg. Noch immer hatte Aura nicht die geringste Ahnung, wie sie vorgehen wollten, doch Gillian beruhigte sie und erzählte irgend etwas von Leuten, auf deren Unterstützung sie mit Hilfe einiger Münzen zählen könnten.
    Anschließend ließ er sie über vier Stunden allein im Zimmer, um, wie er sagte, einige Dinge zu organisieren. Was er ohne das Geld, das er sich von Aura erhofft hatte, anzustellen gedachte, verriet er ihr nicht, und sie erkundigte sich auch nicht danach. Trotz aller Sympathie, die sie für ihn empfand, war er doch ein Dieb und Mörder, und sie nahm an, daß er über Mittel verfügte, wenigstens eine gewisse Summe anderweitig zu besorgen. Das gefiel ihr zwar nicht besonders, aber sie hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Es gab auch so genug, das ihr Kopfschmerzen bereitete, ohne daß sie sich noch um Gillians Moral und Seelenheil sorgen mußte.
    Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag sie auf einem der beiden Betten, blickte durchs Fenster in den bewölken Himmel und versuchte, sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht, doch das lag keineswegs am Lärm, der von der Straße heraufschallte und durch die dünnen Fenster ins Zimmer drang.
    In der vergangenen Nacht, im stickigen Zwielicht des Zugabteils, hatte Gillian ihr erzählt, was er vor Jahren von Lysander erfahren hatte, zu einer Zeit, als der Alchimist den Meuchelmörder noch für einen seiner treuesten Diener gehalten hatte – wahrscheinlich nicht ohne Grund, wie Aura mit leichter Gänsehaut feststellte.
    Ohne näher auf die Gründe seiner Vertrautheit mit Lysander einzugehen, hatte Gillian – erst zögernd und bedächtig, dann immer offener und schließlich gar weitschweifig – wiedergegeben, wie es dem Alchimisten gelungen war, seinem größten Feind die peinlichste Niederlage zuzufügen.
    »Es war zu einer Zeit in Lysanders Leben, als er des Versteckspiels in verfallenen Palästen und Kellergewölben, in abgelegenen Höfen und auf Inseln im Mittelmeer überdrüssig wurde. Er beschloß,

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