Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
während verwunderte Diener sich alle Mühe gaben, ihre Neugier über die Vorgänge hinter Masken aus Gleichmut zu verbergen. Solche Mahlzeiten festigten Christophers Bande mit Sylvette, die mit jedem Mal weiter von ihrer Mutter abrückte und Schutz und Zuneigung bei ihrem Stiefbruder suchte. Für eine Elfjährige trug sie die Veränderungen mit erstaunlicher Fassung, und nach einer Weile hörte sie ganz auf, über Charlottes Fernbleiben bei Tisch zu sprechen. Als es schließlich zur Regel wurde, daß ihre Mutter sich nicht mehr sehen ließ, gab die Kleine sich sogar Mühe, einige Aufgaben der Hausherrin zu übernehmen. Es kam gar soweit, daß die Köchin mit Sylvette die Speisepläne durchsprach, sich von ihr Einkäufe im Dorf und bei Bauern absegnen ließ und das Mädchen mit Fräulein Institoris ansprach, statt sie, wie bisher, beim Vornamen zu nennen.
Sylvette schien die Ereignisse als eine Art Spiel anzusehen, an dem sie mit der Ernsthaftigkeit einer Erwachsenen teilnahm. Auch dafür stieg sie gehörig in Christophers Achtung, der Sylvette mehr und mehr als gleichwertige Gefährtin denn als Kind ansah. Manchmal schüttelte er darüber verwundert den Kopf, doch im Ganzen festigte es nur seine Liebe zu ihr.
Charlotte hatte seit Tagen ihre Gemächer nicht mehr verlassen, und so war ihre Bemühung, in den Dachgarten vorzudringen, gleich in doppelter Hinsicht eine Überraschung. Während der übrigen Zeit verkroch sie sich in ihrem Nest aus Muscheln, und wer geduldig an der Tür horchte, der konnte hören, wie sie in unregelmäßigen Abständen einige der zarten Gehäuse zertrümmerte. Der Triumph über die See war der einzige, der ihr geblieben war.
***
Ein Donnern riß Christopher früh am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Augenblicklich war er hellwach, sprang aus dem Bett und zog sich seine Hose über. Einen Moment lang beherrschte Panik sein Denken. Sie waren gekommen! Charlotte, Daniel, wahrscheinlich einige aus der Dienerschaft. Sie waren da, um ihm die Geheimnisse des Dachgartens zu entreißen. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß das Donnern von Schlägen gegen die Speichertür herrührte.
Das Krachen wiederholte sich.
Christopher erstarrte. Etwas stimmte nicht. Der Lärm war viel zu weit weg. Unmöglich, daß er von der Tür kam.
Er zog Hemd und Pullover über, schlüpfte in seine Schuhe. Die Laute drangen von unten aus dem Schloß herauf.
Als das Donnern zum dritten Mal ertönte, erkannte er, daß es Schüsse waren. Es mußten welche sein. Er hatte nie zuvor einen echten Schuß gehört, aber was, wenn nicht Gewehr oder Pistole, konnte sonst solchen Lärm verursachen?
Eilig stürzte er hinaus auf die Treppe, vergaß nicht, hinter sich die Tür abzuschließen, und stürmte hinunter ins Erdgeschoß. Er hörte aufgeregte Rufe, Schreie gar, dann noch einen Schuß. Instinktiv wandte er seine Schritte in Richtung der Eingangshalle.
Wildes Durcheinander schallte ihm entgegen. Jemand weinte, eine Frau. Ein Mann rief irgend etwas, das Christopher in all der Aufregung nicht verstand. Dann stürzte er durch die letzte Tür und kam in der Eingangshalle zum Stehen.
Konrad, der älteste jener Diener, die im Schloß eigene Räume besaßen, stand im Morgenmantel am Portal und gestikulierte wild mit einer Flinte ins Freie. Sie mußte aus dem Jagdzimmer im Westflügel stammen; ein Wunder, daß sie noch funktionierte. Ein Dienstmädchen in Nachthemd und wehendem Überwurf lief panisch in der Halle auf und ab, als könne es sich nicht entscheiden, was als nächstes zu tun sei. Ein zweites Mädchen stand starr in einer Ecke und hatte beide Hände vor dem Mund zu Fäusten geballt.
In der Mitte der Halle, fast genau unterhalb des Kronleuchters, lag eine reglose Gestalt am Boden. Der Mann trug schwarze Kleidung und stöhnte leise. Erst beim Näherkommen erkannte Christopher, daß das Schwarz der Jacke mit glitzernder Feuchtigkeit durchtränkt war. Einer von Konrads Schüssen mußte ihn in die Brust getroffen haben. Ein Wunder, daß er überhaupt noch lebte.
»Einbrecher!« rief die Dienerin im Nachthemd, als sie Christopher erkannte. »Entführer! O du liebe Güte …« Sie stürmte auf den Mann am Boden zu, und einen Augenblick sah es aus, als wolle sie voller Abscheu auf ihn eintreten. Im letzten Moment besann sie sich, ließ sich auf die Knie fallen und tupfte mit dem Saum ihres Überwurfs ungeschickt in der blutenden Wunde herum.
Konrad steckte zwei weitere Schrotpatronen in den Lauf und feuerte einen
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