Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
glühenden Liebesschwüren oder auch nur mit der Aussicht auf ein wenig Wärme in seinen Bann zu ziehen.
Aber da war noch etwas, das ihr bewußt wurde, und das Bild vom strahlenden Liebhaber voller Charme und kühner Verlockung schwand augenblicklich dahin. »Du glaubst, Lysander will Sylvette nun für sich haben, um ihr das gleiche anzutun, was Vater mit mir vorhatte?«
Gillian bemerkte das Flehen in Auras Blicken, und doch nickte er bekümmert. »Sie ist seine leibliche Tochter. Und auch sie wird irgendwann volljährig sein. Theoretisch steht seinen Plänen nichts im Wege. Er hat sie wie ein Kuckuck in das Nest deiner Familie gelegt, und nun, da sie älter wird, erhebt er seinen Anspruch.« Gillian hielt einen Augenblick inne, holte seufzend Luft und sagte dann: »Kein Zweifel, Aura – Lysander wird versuchen, mit Sylvette den Stein der Weisen zu zeugen.«
Am Abend kehrte Gillian ins Hotel zurück und erklärte knapp, daß es ihm zwar gelungen sei, mit den richtigen Leuten Kontakt aufzunehmen, daß jene sich aber noch einen Tag Bedenkzeit ausbedungen hätten. Er schien deshalb recht nervös zu sein, fürchtete er doch, daß die Nachricht von seiner Rückkehr nach Wien und – schlimmer noch – seine Pläne bis zum folgenden Abend ihren Weg zu Lysander finden würden. Als er seine Sorgen aussprach, wurde Aura abermals von Zweifeln befallen. Doch bald schon erinnerte sie sich wieder an Sylvette und sagte sich, daß irgend etwas geschehen mußte, ganz gleich, wie hoch der Preis dafür war.
Natürlich sprachen sie darüber, die Polizei zu informieren, doch Gillian konnte überzeugend darlegen, daß jemand, der Einfluß auf die Machtstruktur innerhalb der Hofburg hatte, ganz sicher auch im Polizeipräsidium einige Fäden zu ziehen vermochte. Der Gang zu den Behörden hätte demnach ihre Niederlage nur beschleunigt.
Gillian eröffnete Aura, daß er vorhabe, am nächsten Abend mit oder ohne ihre Hilfe in Lysanders Gewölbe einzudringen, um den Alchimisten endgültig auszuschalten. Er stellte Aura vor die Wahl, an dieser Unternehmung teilzunehmen oder aber in der Pension zu bleiben. Eine ganze Weile lang zögerte sie, doch als er ihr resigniert anbot, sie könne ebensogut abreisen und Sylvettes Rettung ihm allein überlassen, wurde sie zornig und sagte mehr aus Impuls als aufgrund vernünftiger Überlegung, daß sie auf alle Fälle mit ihm gehen wolle. Schon Augenblicke später bereute sie ihre vorschnellen Worte, brachte es aber nach einem Blick in Gillians dankbare Augen nicht über sich, einen Rückzieher zu machen. Immerhin, sie hatte die Konfrontation mit dem mörderischen Greis in der Berghütte überstanden – wieviel schlimmer konnte es da noch kommen?
Am Ende einer Nacht, in der keiner von beiden Schlaf fand, und nach einem Frühstück, dessen Qualität einen der Gründe offenbarte, weshalb die Pension die preiswerteste weit und breit war, verließ Aura das Zimmer, um den Portier um eine Tageszeitung zu bitten. Der mürrische Kerl am Empfang kam ihrem Wunsch bereitwillig nach, obgleich die Zeitung seine eigene war. Zu Auras Überraschung schien es ihr Äußeres zu sein, das ihn dazu bewog. Es war das erste Mal, daß sie ihre Schönheit, wenn auch unbewußt, als Mittel zum Zweck eingesetzt hatte, und der Erfolg verblüffte sie. Vielleicht wäre es klüger gewesen, sich bereits in der Züricher Polizeistation weniger kratzbürstig zu zeigen. Gut möglich, daß ihr dann vieles erspart geblieben wäre.
Sie blätterte die Zeitung auf der Treppe nach oben durch, und so folgte die zweite Überraschung dieses Tages lückenlos auf die erste: In einem schmalen Text unter fetter Überschrift wurde vor einem Mädchenräuber gewarnt, der mit einem seiner Opfer aus der Schweiz nach Wien oder in die ungarischen Gebiete im Osten Österreichs geflohen sei.
Der Autor des Artikels zeigte sich höchst verwundert über die Tatsache, daß der Verbrecher den Züricher Behörden offenbar in Frauenkleidung entwischt war, und er nutzte die Gelegenheit, auf bissige Weise die Fähigkeiten der Polizei anzuzweifeln, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden. Die Frau auf der Toilette war entdeckt worden, und die Spur ihrer Kleidung hatte zum Bahnbeamten am Fahrkartenschalter geführt. Dieser hatte angegeben, daß eine Dame in eben jener Kleidung zwei Karten nach Österreich gelöst habe, nach Wien, wenn er sich recht erinnere. Zum ersten Mal wurde seitens der Polizei eingeräumt, daß es in den Bergen nahe Zürich möglicherweise zu
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