Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
damit zugebracht, nach etwas zu suchen, das die ganze Welt für ein Hirngespinst hält. Sie wurden ausgelacht, geächtet, mußten sich ins Verborgene flüchten. Und dennoch haben sie weitergesucht. Glaub mir, Aura, ihnen ist jedes Mittel recht, um zum Ziel zu gelangen.«
Sie erinnerte sich an Daniels angeblichen Unfall und nickte unmerklich. In ihrem Kopf drehten sich die Bilder und Vorstellungen wie Herbstlaub in einem Luftwirbel. Sie wußte kaum noch, was sie denken sollte, und gelang es ihr einmal, einen klaren Gedanken zu fassen, so wurde er gleich darauf wieder vom Strudel ihrer Gefühle davongerissen.
Gillian, der ihr bislang gegenübergesessen hatte, rückte jetzt neben sie auf die Bank. »Ich muß dir noch etwas sagen«, begann er leise. »Es ist nicht ganz einfach, und ich weiß nicht, ob das hier der rechte Augenblick ist, aber ich glaube, je früher du –«
»Nun sag’s schon«, fuhr sie ihn an, plötzlich voller Zorn und Trotz, als trüge allein er die Schuld an allem.
Gillian wand sich vor Unbehagen. Noch immer hielt er Auras Hand. »Ich habe es durch Zufall erfahren, vor einigen Jahren, als Lysander mir schon einmal von deinem Vater erzählte. Ich hatte nicht mehr daran gedacht, bis ich auf der Fahrt zu euch Lysanders Schreiben las und mir plötzlich eine ganze Menge klar wurde.«
»Was meinst du?«
»Deine Schwester ist nicht die Tochter deines Vaters. Nestor hat das immer gewußt.«
Eine Woge der Erleichterung überkam sie. »Ist das alles?« fragte sie lächelnd.
»Du hast es gewußt?«
»Meine Mutter hat es nie allzu überzeugend abgestritten.«
»Aber dann …«, entfuhr es ihm, immer noch verwirrt von ihrer Abgeklärtheit, »dann muß dir auch klar sein, daß ihr leiblicher Vater Anspruch auf sie erheben wird. Heute mehr denn je.«
Aura schüttelte den Kopf. »Friedrich hat nie Bestrebungen in dieser Richtung unternommen.«
»Friedrich?« Gillian blinzelte verwundert.
»Freiherr von Vehse. Der Geliebte meiner Mutter.«
Gillian lehnte sich mit einem Seufzen zurück. Der Hut stieß gegen die Lehne und rutschte ihm vom Kopf, aber es kümmerte ihn nicht. Mit einem Ruck beugte er sich wieder vor und blickte Aura eindringlich an. »Du irrst dich«, sagte er, und als Auras Augen sich weiteten, fuhr er fort: »Es gab noch jemanden.«
»Noch … jemanden?«
Er nickte. »Lysander ist Sylvettes wahrer Vater, Aura. Und ich fürchte, er hat bereits seine Leute ausgesandt, um sie endlich zu sich zu holen.«
KAPITEL 10
An einem Dienstag abend versuchte Charlotte zum ersten Mal seit Jahren, in den Dachgarten vorzudringen und Nestor zur Rede zu stellen. Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen das Pelikanrelief an der Speichertür, und Christopher fühlte sich gezwungen, den Eingang von innen mit einer Kommode zu versperren, aus Furcht, sie könne versuchen, die Tür aufbrechen zu lassen. Nach einer halben Stunde aber verstummte ihr Weinen und Schreien, und er hörte, wie sich ihre Schritte auf der knarrenden Holztreppe entfernten. Zwei Stunden lang blieb er in Aufruhr und Angst, sie könne mit den Dienern zurückkehren, um doch noch gewaltsam einzudringen. Schließlich aber, nachdem er ein gutes Dutzend Pläne gefaßt und wieder verworfen hatte, um sein Geheimnis zu bewahren, wurde er allmählich gelassener. Es schien, als hätte Charlotte sich beruhigt. Vielleicht plante sie, die täglichen Mahlzeiten aussetzen zu lassen und Nestor so zum Verlassen des Speichers zu zwingen – eine Vorstellung, die Christopher mit finsterer Belustigung erfüllte.
Nein, so wie es aussah, war er wieder sicher, zumindest eine Weile lang. Aber er ahnte auch, daß die Zeit der Heimlichtuerei ihrem Ende entgegenging. Heute mochte seine Stiefmutter noch einmal den kürzeren gezogen haben, doch wer wußte schon, wie groß ihre Verzweiflung nächste Woche sein würde?
Und verzweifelt war sie wohl, vor allem seit die Besuche ihres Geliebten ausblieben. Seit Friedrichs Verschwinden mehrten sich die Anzeichen einer geistigen Verwirrung, die sie lange Zeit mit wechselhaftem Erfolg unterdrückt hatte und die jetzt immer deutlicher zum Ausbruch kam. Einige der Menschen im Schloß, wie Christopher, mochten es häufiger spüren, andere, wie Sylvette, nur gelegentlich. Dennoch gab es keinen Zweifel, daß Charlotte auf dem besten Wege war, den Verstand zu verlieren.
Es hatte damit begonnen, daß sie gelegentlich die gemeinsamen Mahlzeiten ausließ. Immer öfter hatten Christopher und Sylvette allein an der Tafel gesessen,
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