Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Schuß hinaus in die Morgendämmerung. Der Zypressenhain wuchs wie die Reihen einer feindlichen Armee vor dem offenen Haupttor empor. Nicht einmal der beherzte Diener wagte es, dort hinauszulaufen, wo ihm die übrigen Einbrecher im Schutz der Bäume auflauern mochten.
»Was ist geschehen?« rief Christopher zu dem alten Mann hinüber, der zitternd mit der Flinte herumwirbelte und sie sekundenlang sogar in Christophers Richtung hielt, ehe ihm klar wurde, daß es sich bei ihm um keinen der Eindringlinge handelte. Auf dünnen Beinen stakste er heran und deutete auf den Schwerverletzten zu Christophers Füßen. Seine Worte waren vor Erregung kaum zu verstehen.
»Das kleine Fräulein … dieser Unmensch und seine Kumpane haben sie –«
»Sylvette?« Christopher packte den Diener an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Wo ist sie? Sprich schon, verdammt!«
»Sie haben sie nach draußen geschleppt. Sie … sie sind gerade erst fort!«
Ohne zu überlegen, entriß Christopher dem Alten die Flinte; eine Kammer war noch geladen. Mit dem Gewehr in beiden Händen – zum ersten Mal in seinem Leben bewaffnet – stürmte er ins Freie, rannte durch die tiefdunklen Schatten des Zypressenhains, bis er am Rand der Bucht zum Stehen kam. Jenseits der beiden steinernen Löwen, die die Einfahrt des Hafenbeckens flankierten, sah er im Dämmerlicht ein Boot, das von zwei Männern mit kräftigen Ruderschlägen zum Festland gesteuert wurde. Ein dritter hielt ein regloses Bündel in den Armen – Sylvette!
»Ihr Schweine!« schrie Christopher über das Wasser hinweg.
»Bringt sie zurück!« In seiner Hilflosigkeit feuerte er den letzten Schuß in den düsteren Himmel und wäre vom Rückstoß fast zu Boden geworfen worden. Das Boot entfernte sich in zügigem Tempo, schon waren die einzelnen Personen darin kaum noch auszumachen. Einen Augenblick lang hätte Christopher sich fast dazu hinreißen lassen, den Entführern mit einer der Jollen zu folgen. Dann aber klärten sich seine Gedanken soweit, daß er die Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens einsah. Zornig fuhr er herum – und blickte in Daniels Gesicht. Sein Stiefbruder war unbemerkt von hinten herangekommen. Zwischen den äußeren Zypressen blieb er stehen.
»Du?« brüllte Christopher außer sich vor Wut. »Was willst du?«
Daniels Wangen zuckten. Er unterdrückte seine Gefühle und sagte leise: »Der Mann in der Halle ist tot. Während du hier wild durch die Gegend gebrüllt hast, habe ich erfahren, wohin sie Sylvette bringen wollen.«
»Er hat es dir gesagt?« entfuhr es Christopher verblüfft.
»Kurz bevor er starb.«
»Und?«
Daniels Züge festigten sich. »Nach Österreich. Nach Wien, hat er gesagt.«
»Wien?« Christopher fragte sich kurz, ob Daniel ihn anlog. »Was, zum Teufel, will man mit ihr in Wien?«
»Der Mann hat irgendwas von der Hofburg gefaselt – mehr nicht.«
Daniel trat aus dem Schatten der Bäume auf Christopher zu. Er war ebenso vollständig bekleidet wie sein Stiefbruder, wenn auch der schiefe Kragen die Eile verriet, mit der er die Sachen übergestreift hatte. Sein Gesicht war bleich und abgemagert, die Verbände um seine Handgelenke verschwunden. »Statt hier herumzustehen, sollten wir den Kerlen besser folgen.«
»Die sind bewaffnet. Was können wir schon gegen sie ausrichten?«
»Nur einer hat einen Revolver, sagt Konrad. Offenbar haben sie nicht ernsthaft damit gerechnet, daß irgendwer Gegenwehr leistet.«
Christopher überlegte. »Sie werden die Reise kaum mit einer Kutsche antreten, oder? Das bedeutet, sie müssen zum Bahnhof.«
»Ein wenig auffällig für eine Entführung.«
»Wer in ein Schloß wie dieses marschiert und ein Kind verschleppt, der legt offenbar wenig Wert auf Diskretion! Sie haben Sylvette vermutlich betäubt. Wenn sie den Schaffnern erzählen, sie sei krank und brauche Ruhe, wird niemand das anzweifeln.«
»Also?« fragte Daniel und musterte Christopher mit einer Mischung aus Mißtrauen und Sorge. »Was schlägst du vor?«
Christopher wandte sich um und blickte noch einmal zum Festland. Der Morgendunst hatte das Boot verschluckt. »Ich weiß es nicht …«
»Mach, was du willst«, entgegnete Daniel kühl. »Ich jedenfalls folge ihnen.« Damit trat er an Christopher vorbei, lief mit polternden Schritten über den Steg und sprang in eines der Ruderboote.
Er hatte das Haltetau kaum gelöst, als Christopher hinter ihm auf den Planken landete. Die Jolle schaukelte, Wellen klatschten gegen das Holz, dann
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