Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
einer ganzen Reihe von Morden an jungen Frauen gekommen sei – der Täter sei fraglos derselbe, der sich jetzt außer Landes abgesetzt habe. Offenbar war ein Polizeitrupp ein zweites Mal hinauf in die Berge gestiegen und hatte die Grube hinter der Hütte entdeckt. Die Grube und das, was darin lag. Der Artikel schloß mit zwei Personenbeschreibungen: Jene von Gillian war vage, teils sogar falsch, doch Auras Merkmale waren mit erstaunlicher Genauigkeit wiedergegeben – das pechschwarze, hüftlange Haar, die hellblauen Augen, ihre dunklen Brauen. Alles stimmte, und zu allem Überfluß war auch noch ihr Name angegeben.
Sie hatte den Bericht kaum zu Ende gelesen, als sie sich plötzlich beobachtet fühlte. Ihr Haar war hochgesteckt, zum Glück, ihre Kleidung notdürftig von Hand gereinigt. Sie sagte sich, daß ihre Befürchtungen unsinnig waren. Niemand hatte Grund, sie mit der Zeitungsmeldung in Verbindung zu bringen. Und doch konnte sie ihre Sorgen nicht verdrängen. Fast war ihr, als bohrten sich von allen Seiten fremde Blicke wie Nadeln in ihren Körper. Sie hatte den oberen Absatz der Treppe noch nicht erreicht, da schaute sie sich schon argwöhnisch um – und erkannte, daß ihre Gefühle sie nicht trogen. Sie wurde beobachtet.
»Aura?« fragte jemand zweifelnd am Fuß der Treppe. Dann, noch einmal, und diesmal klang es erfreut: »Aura!«
Vor Schreck ließ sie die Zeitung fallen. Sie erkannte ihn und konnte es doch nicht glauben.
»Daniel!«
Er kam auf sie zugestürmt, immer drei Stufen auf einmal. Dann umarmten sie sich, und Daniel küßte sie voller Leidenschaft – zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit. Aura konnte es noch immer nicht fassen, alles schien sich um sie zu drehen, und sie ließ ihn im Taumel ihrer Gefühle gewähren, ohne seine Küsse wirklich zu erwidern. Schließlich schlug sie die Augen auf und blickte an Daniels Wange entlang die Treppe hinab. Da unten stand noch jemand und betrachtete sie düster.
Aura löste sich sanft von ihrem Stiefbruder, klopfte sich in unbeholfenem Stolz das Kleid glatt und sagte kühl:
»Guten Morgen, Christopher.«
***
Daß die drei Stiefgeschwister Zimmer in derselben Pension bezogen hatten, war weniger dem Zufall als zwingender Notwendigkeit zu verdanken. Als Christopher und Daniel den Dorfbahnhof erreicht hatten, waren die Entführer mit der kleinen Sylvette gerade verschwunden gewesen. Die Zeit bis zum nächsten Zug hatte nicht ausgereicht, um zum Schloß zurückzukehren und sich mit Kleidung und Geld einzudecken. So hatten sie das wenige, das sie in ihren Taschen fanden, zusammengeworfen, und es war gerade genug gewesen, zwei Fahrkarten zu lösen und die billigste Pension im Bezirk um die Hofburg zu nehmen. Selbst hier würde ihre Barschaft innerhalb zweier Nächte aufgebraucht sein.
Sie waren an jenem Morgen gerade erst eingetroffen, und wäre es nicht zu dem unverhofften Wiedersehen mit Aura gekommen, hätte sie ihr nächster Weg wohl zur Polizei geführt. So zumindest wollte es Daniel. Christopher dagegen widerstrebte es zutiefst, sich an die Behörden zu wenden. Er fürchtete, vielleicht gegen jede Vernunft, sich damit eigenhändig ans Messer zu liefern. Zwar lagen Nestors verscharrte Leiche und der Mord am Freiherrn über tausend Kilometer hinter ihm, doch der üble Nachgeschmack seiner Taten folgte ihm bei jedem Schritt. Zudem spürte er, wie ihn die Überzeugung von der Unausweichlichkeit seines Tuns verließ. Je weiter er sich vom Schloß und der öden Küste entfernte, desto weniger Macht schien die Erinnerung an Nestor über ihn zu haben. Es war fast, als zöge sich ein Schatten von Christophers Seele zurück.
Noch immer aber war sein Haß auf Daniel ungebrochen, und es hatte während der Reise mehr als nur einen heftigen Streit gegeben; nur konnte Christopher sich immer weniger an die tatsächlichen Ursachen erinnern, die diesem Haß zugrunde lagen. Manchmal kam es ihm vor, als sei das, womit Daniel seine Abneigung verdient hatte, nicht ihm, Christopher, sondern einem anderen widerfahren. Zum ersten Mal wurde sein Kopf klar genug, um sich die Frage zu stellen, ob er mit Nestors alchimistischem Vermächtnis auch dessen Widerwillen gegen den ungeliebten Stiefsohn geerbt hatte. Der Gedanke machte ihm Angst, und so schob er ihn weit, weit von sich.
Aber auch Daniel zeigte keinerlei Bereitschaft, Christopher die Verbannung in den Leuchtturm und sein Verhalten Charlotte gegenüber zu verzeihen. So fand ihre gegenseitige Abneigung stets neue
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