Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Nahrung, wurde zu einem bitteren Kreislauf, aus dem keiner der beiden auszubrechen vermochte. Und vielleicht wollten sie es ja auch gar nicht.
Dann kam der Morgen, an dem sie Aura wiedertrafen, und das änderte vieles. Denn mit ihr gelangte ein neuer Faden in das komplizierte Geflecht ihrer Beziehung, und es erleichterte die Dinge keineswegs, daß ihre Stiefschwester die beiden in ihr Zimmer führte und einem sonderbaren Fremden vorstellte.
Sein Name war Gillian, und Christopher erkannte ihn sofort.
Er war der Mörder Nestors.
Vom nahen Opernring drang das schrille Klingeln einer Trambahn herauf. Die eisenbeschlagenen Räder der Droschken ratterten über unebenes Pflaster, Pferde wieherten, und Kutscher fluchten. Über allem lag das monotone Raunen der Menschenmenge, die auf der Straße unterhalb des Fensters flanierte und in die gepflegten Anlagen des Hofgartens strömte.
Aura hockte im Schneidersitz am Kopfende ihres Bettes und ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern. Sie hatte den Saum des Kleides bis zu den Knien heraufgezogen. Nur der hitzigen Atmosphäre im Zimmer war es zu verdanken, daß sie in dem unbeheizten Raum nicht fror.
Eine gute Armlänge entfernt saß Daniel auf der Bettkante und massierte mit einer Hand seinen Nacken, während die andere zur Faust geballt auf der Bettdecke lag – was immer er damit auch zum Ausdruck bringen wollte.
Christopher stand unweit der Tür und nahm seinen Blick nicht von Gillian, der am Fenster lehnte und keinen Hehl daraus machte, wie sehr ihm dieses Familientreffen mißfiel. Gillians Stirn lag in Falten, seine Augen waren abwechselnd auf Daniel und Christopher gerichtet. Gelegentlich sah er auch zu Aura hinüber, und sie erkannte nur zu deutlich den stummen Vorwurf in seiner Miene. Was aber hätte sie tun sollen? Sie war selbst viel zu überrumpelt gewesen, abgesehen davon, daß sie ihre Stiefbrüder kaum auf der Treppe hätte stehenlassen können.
Natürlich gefiel es ihr keineswegs, Christopher in ihrer Nähe zu wissen. An ihrer instinktiven Abneigung gegen ihn hatten auch die vergangenen Monate nichts geändert. Sie beobachtete ihn so unauffällig wie möglich. Die seltsame Starre, die ihn bei Gillians Anblick befallen hatte, machte sie stutzig. Er verbarg irgend etwas vor den anderen, und das beunruhigte sie zutiefst.
Schlimmer noch: Ihr war, als wäre auch über Gillians Gesicht bei Christophers Eintreten ein leiser Schrecken gefahren, ganz kurz nur. Gillian hatte sich ungleich besser unter Kontrolle als ihr Stiefbruder, und doch schien es ihr, als hätte er Christopher von irgendwoher wiedererkannt. Aura verstand Gillians Argwohn, ja sie teilte ihn sogar; dennoch hätte sie gerne gewußt, was es war, das da unausgesprochen zwischen den beiden im Raum stand.
»Ich schätze, irgendwer muß den Anfang machen«, ergriff Daniel das Wort und schaute die anderen der Reihe nach an. Als niemand widersprach, fuhr er fort: »Christopher und ich sind hier wegen Sylvette.«
Auras Herz setzte für einige Schläge aus. Sie fing Gillians warnenden Blick auf, ohne ihn zu beachten. »Was ist mit ihr?« platzte sie besorgt heraus.
»Sie wurde entführt«, gab Daniel zurück. »Möglicherweise hierher.«
Bevor Aura noch etwas sagen konnte, kam Gillian ihr mit geringschätzigem Lächeln zuvor. »Und ihr beiden glaubt, ihr könnt nach Wien kommen und sie befreien? Einfach so?«
Daniel blickte hilfesuchend zu Aura hinüber, dann entgegnete er stur: »Ich weiß nicht, wer Sie sind, was Sie mit meiner Schwester zu schaffen haben und warum Sie sich ein Zimmer mit ihr teilen.« Aura dachte erleichtert: Wenigstens hat er keine Zeitung gelesen. Daniel fuhr fort: »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn es sich vermeiden ließe, daß Sie sich über uns lustig machen.«
»Ihr habt gegen Lysander nicht die Spur einer Chance«, sagte Gillian unbeeindruckt.
Zum ersten Mal mischte Christopher sich ein. »Wer ist denn dieser Lysander?«
»Er hat die Männer beauftragt, die die Kleine verschleppt haben.«
Daniel blinzelte mißtrauisch. »Sie kennen ihn?«
Aura kam Gillian zur Hilfe. »Vater und Lysander sind alte Bekannte. Oder besser: Rivalen. Wie es scheint, hat Lysander Sylvette entführen lassen, um Vater eins auszuwischen.« Sie vereinfachte die Dinge ganz bewußt, nicht aus Scham, sondern weil sie der Erklärungen überdrüssig war.
Christopher wandte sich an Gillian. Ein rätselhaftes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Sie kennen diesen Lysander gut, nicht
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