Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
wahr?«
»Ich kannte ihn«, erwiderte Gillian knapp.
»Wir sollten zur Polizei gehen«, sagte Daniel, »jetzt gleich.«
»Das wird wenig Sinn haben«, meinte Gillian.
»Lysander ist einer der mächtigsten Männer Wiens«, erklärte Aura widerstrebend. »Die Polizei kann ihm nichts anhaben. Vielleicht steht sie sogar auf seiner Seite.«
Daniel sah sie erstaunt an. »Woher weißt du das alles?«
Aura erzählte ihm eine verkürzte Version der Ereignisse – und stellte dabei verwundert fest, wie leicht es ihr mit einemmal fiel, Daniel gegenüber unehrlich zu sein. Noch vor einigen Monaten hätte sie das für unmöglich gehalten. Etwas zwischen ihnen hatte sich grundlegend verändert; sie selbst hatte sich verändert. Sie verschwieg sowohl Gillians Angriff im Zug als auch die Geschehnisse in der Almhütte. Lediglich die Tatsache, daß Gillian ihr bei der Flucht aus dem Internat geholfen hatte, erwähnte sie, und daß er dasselbe für Sylvette tun wolle.
Während Christopher schwieg, ohne dabei zu verraten, ob er ihr Glauben schenkte, stellte Daniel beharrlich weitere Fragen, vor allem was Gillians Motive anging. Aura blockte sein Mißtrauen ab, und schließlich war es Gillian, der sagte: »Mir scheint, ich bin ohnehin der einzige hier, der genug über Lysander weiß, um Sylvette zu befreien.« Aura mußte ihn nicht ansehen, um zu wissen, daß er nicht halb so überzeugt davon war, wie er tat. »Es ist mir gleichgültig, ob ihr mir vertraut oder nicht«, fuhr Gillian fort, »aber ihr werdet euch damit abfinden müssen, daß ihr auf meine Hilfe angewiesen seid.«
»Welch ein Glück für uns«, bemerkte Christopher und lächelte geheimnisvoll.
Aura sprang auf und stellte sich an Gillians Seite. Dabei fixierte sie ihre Stiefbrüder mit festem Blick. »Es gibt nur einen Weg, Sylvette zu befreien. Und Gillian kennt ihn.« Das war ein ziemlich gewagter Schuß ins Blaue, denn bislang hatte Gillian ihr von seinem Plan nichts außer ein paar vagen Bruchstücken erzählt. Nun aber hoffte sie, daß ihre provozierenden Worte ihm auch den Rest entlockten. Eine Stimme in ihrem Inneren flüsterte: Du spielst sie gegeneinander aus, Aura – seit wann bist du zu so was fähig?
Gillian bemerkte die Herausforderung in ihren Worten, mehr noch in ihrem Blick, und sie brachte ein Lächeln der Anerkennung auf sein Gesicht. Daß da etwas war, das nur sie beide verstanden, erfüllte Aura mit einem sonderbaren Glücksgefühl. Etwas geschah zwischen ihr und Gillian, und verwirrte sie.
»Was Aura meint«, begann Gillian, »ist, daß es möglicherweise jemanden gibt, der uns helfen kann, in Lysanders … nun, nennen wir es seine Räuberhöhle, zu gelangen. Es gibt unter der Oberfläche Wiens eine Art zweite Stadt, ein riesiges Labyrinth aus Kanälen und Stollen. Dort unten leben Menschen und Frauen, die sich selbst Fettfischer nennen. Ich habe sie gebeten, mir zu helfen. Sie waren schon einmal bereit dazu, und ich hoffe, sie werden es wieder sein.«
»Was genau sind diese … Fettfischer?« fragte Christopher.
»Obdachlose, Herumtreiber. Für viele der Abschaum der Gesellschaft – für uns aber die einzige Möglichkeit, Sylvette zu retten. Ich hatte gehofft, andere Männer anheuern zu können, Männer mit Ausrüstung, Waffen und vor allem Erfahrung in diesen Dingen. Aber ohne das nötige Geld müssen wir uns mit dem behelfen, was wir kriegen können. Und die Fettfischer sind nicht anspruchsvoll. Mit ein paar Schilling sollten wir sie auf unsere Seite ziehen können.«
»Sollten?« argwöhnte Daniel.
Gillian sah ihn scharf an. »Die Fettfischer mögen in deinen Augen Aussatz sein, mein Junge, aber sie sind ihre eigenen Herren. Sie sind das Beste, was wir kriegen können. Wenn sie uns nicht helfen, dann tut es niemand.«
»Wann erfährst du, wie sie sich entschieden haben?« wollte Aura wissen.
»Heute nachmittag. Rupert, einer ihrer Anführer, erwartet uns. Dann wird er uns seinen Beschluß mitteilen.«
»Sie meinen, wir sollen hinunter in die Kanäle steigen, nur auf gut Glück?« entfuhr es Daniel ungläubig. »Was, wenn er sich gegen uns entschieden hat?«
Gillian zuckte betont gelassen mit den Schultern, doch Aura erkannte die Sorge in seinem Blick. »Dann werden uns Lysanders Leute wahrscheinlich schon erwarten.«
Christopher verzog das Gesicht. »Klingt vielversprechend.«
»Das ist Wahnsinn!« meinte Daniel heftig.
»Es ist Wahnsinn, Lysander in seinem eigenen Heim anzugreifen, allerdings«, bestätigte Gillian gereizt.
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