Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
nachsah. Ihm gelang es sogar, sie mit einem gewissen Charme zu benutzen, keineswegs väterlich oder gönnerhaft. Er meinte es so, wie er es sagte. Meine Liebe.
Sie suchte einen Moment nach den richtigen Worten, dann sprudelte alles aus ihr heraus. Sie erzählte von dem blutigen Handabdruck. Von dem sechsten Finger. Von ihrer Unsicherheit, dass sie sich verfolgt und beobachtet fühlte. Auch dass sie bei ihrer Suche nach dem Verbum Dimissum keinen Schritt weitergekommen war und ein schlechtes Gewissen hatte, weil Sylvette und ihre Mutter auf Schloss Institoris so nahe an der Front waren.
Philippe hörte geduldig zu, ergriff hin und wieder ihre Hand, streichelte ihre Finger, ließ sie aber bis zum Ende reden, ohne sie zu unterbrechen. Dann erst stand er auf, schenkte sich einen dritten Sherry ein und drehte sich mit dem Glas in der Hand zu ihr um.
»Du hättest mein Angebot annehmen und hier im Palais übernachten sollen.«
Sie hatte abgelehnt, um Raffaels Annäherungsversuchen zu entgehen. Aber dies war der falsche Zeitpunkt, um mit Philippe darüber zu sprechen. Deshalb hob sie nur unschlüssig die Schultern. »Vielleicht.«
»Es dürfte nicht allzu schwer gewesen sein, an einen Ersatzschlüssel deines Zimmers zu kommen«, sagte er. »Mit Geld lässt sich alles erreichen. Frag mich nicht, was ich bezahlen musste, um trotz der Mobilmachung ein Büfett für zweihundert Personen auf die Beine zu stellen. Ganz zu schweigen von all den dekorativen jungen Herrn, die den Gästen Champagner servieren werden.«
»Ich wundere mich ja auch gar nicht darüber, dass es irgendwem gelungen ist, in mein Zimmer zu kommen. Die Frage ist vielmehr, was er von mir will.«
»Offenbar nicht viel. Sonst hätte er es sich geholt, nicht wahr?«
»Sehr beruhigend.«
Er trat auf sie zu und strich ihr übers Haar. »Tut mir Leid. Denk nicht, dass ich diese Sache nicht ernst nehme. Warum lässt du nicht dein Gepäck holen und ziehst bei mir ein? Du kannst bleiben, so lange du willst.«
Einen Moment lang war sie versucht, sein Angebot doch noch anzunehmen. Mit Raffael würde sie fertig werden. Dann aber schüttelte sie den Kopf. »Es geht schon. Danke.«
»Du hast gesagt, du fühlst dich verfolgt.«
»Ich bin ein wenig«, sie zögerte, »ein wenig durcheinander in letzter Zeit. Diese Sache mit Gian… Du hättest ihn sehen sollen, als er abgereist ist. Er hat getobt. Tess hat mir geschrieben, und was sie über ihn erzählt, klingt nicht, als hätte er sich beruhigt. Er behauptet, ich hätte erst seinen Vater und jetzt auch ihn aus dem Haus getrieben.«
»Ist es wegen des Krieges?« Philippe trank den Sherry aus und stellte das leere Glas beiseite. »Glaubt er diesen Unsinn über Ruhm und Ehre und Vaterland? Es ist ein Elend, mit ansehen zu müssen, wie all diese Jungs darauf brennen, an die Front zu ziehen. Keiner von denen weiß, was ihnen wirklich bevorsteht. Sie wissen nicht, was es heißt, zu kämpfen. Und bekämpft zu werden.«
»Gian ist im Schloss aufgewachsen. Auf einer Insel. Es würde mich wundern, wenn er mit diesem patriotischen Unfug in Berührung gekommen wäre.«
Er hob eine Braue. »Aber du weißt es nicht genau?«
Beschämt senkte sie den Blick. »Nein. Ich weiß viel zu wenig über ihn.« Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie nicht all die Jahre im Laboratorium auf dem Dachboden des Schlosses verbracht hätte. Warum hatte sie nicht erkannt, dass sie den gleichen Fehler beging wie ihr eigener Vater? Sie hatte Nestor in ihrer Jugend kaum zu Gesicht bekommen, und auch er hatte sie schließlich gegen ihren Willen fortgeschickt. Wie sehr hatte sie ihn dafür gehasst.
Durch die Tür des Ballsaals ertönten aufgeregte Stimmen, dann polterte etwas, gefolgt von wilden Flüchen. Philippe verdrehte die Augen und ließ sich müde in einen Sessel neben dem Kamin fallen.
»Wegen der Hand – hast du einen Verdacht?«
Sie nickte. »Ich habe gestern und heute eine Menge nachgedacht. Ich hatte nicht genug Zeit, alles nachzuschlagen, aber ich glaube, ich weiß, was der Abdruck zu bedeuten hat.«
Sie überlegte kurz, wo sie beginnen sollte. Philippe ließ sie nicht aus den Augen und wartete darauf, dass sie fortfuhr. Er kannte sie besser als die meisten anderen, und sie wusste, dass er ihre Theorie ernst nehmen würde. Als sie ihm vor ein paar Jahren vom Gilga-mesch-Kraut erzählt hatte, hatte er ihre Behauptungen nicht einen Augenblick lang in Frage gestellt. Er hatte Nestor gekannt, zumindest ein wenig, und er wusste
Weitere Kostenlose Bücher