Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Jahren hätte sie ihn vermutlich attraktiv gefunden.
»Hör auf mit dem Unsinn, Raffael.«
Als er nicht reagierte, schob sie ihn mit der Hand beiseite und ärgerte sich noch im selben Moment, dass sie ihm auf den Leim gegangen war. Er hatte sie dazu gebracht, ihn anzufassen, und wenn auch nur, um ihn zur Seite zu schieben. Er wusste genau, wie zuwider ihr das war. Am liebsten hätte sie ihm das zufriedene Lächeln aus dem Gesicht gekratzt.
Stattdessen blieb sie stehen und starrte ihn an, sah ihm nicht in die Augen, sondern nur auf die Nase, dem einzigen Teil seines Gesichts, der nicht länger makellos war. Der Bruch war schief zusammengewachsen, und sie frohlockte insgeheim, als sie seine Unsicherheit bemerkte. Er war es gewohnt, seine Schönheit als Waffe einzusetzen – so lange man nicht seinen einzigen Schwachpunkt erkannte, das Lindenblatt auf der Schulter des Drachentöters. Auras Blick stieß wie eine Lanze in seinen wunden Punkt. Es war ihm so unangenehm, dass er sich rasch abwandte und die Haustür schloss.
Erhobenen Hauptes durchquerte sie die Eingangshalle und schlug den Weg zum Ballsaal ein. Philippe gab morgen Abend einen Maskenball – trotz oder wegen des beginnenden Krieges, sie war nicht ganz sicher –, und die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Er war der einzige Mensch in Paris, dem sie genug vertraute, um mit ihm über ihren Verdacht zu sprechen.
Die Eichenflügel der Saaltür standen offen. Philippe Monteillet befand sich inmitten eines wimmelnden Pulks aus Bediensteten und Dekorateuren. Seine langen Arme wirbelten wild umher, wiesen nach rechts auf ein paar Stoffbahnen, die höher gehängt werden mussten, fuchtelten links, um Anweisung für die Aufstellung der Büfett-Tische zu geben. Dabei redete er unablässig auf ein paar Musiker ein, die in Straßenkleidung das morgige Programm mit ihm abstimmten.
»Aura!«, rief er lachend, als er sie entdeckte, ließ alle anderen ste-hen und eilte ihr entgegen. Aufgrund der beachtlichen Größe des Ballsaals dauerte es eine ganze Weile, ehe sie sich gegenüberstanden. »Du kommst genau richtig.«
Sie lächelte. »Brauchst du noch jemanden, der Brote schmiert?«
Er fuhr sich mit der Hand durch sein weißes wallendes Haar. Es fiel bis auf seine Schultern. Für einen Fünfzigjährigen besaß er eine erstaunliche Haarpracht.
»Einen Mann!«, sagte er mit kokettierendem Blick. »Ich brauche einen echten Mann.« »So?« Zweifelnd hob sie eine Augenbraue. »Und da dachtest du an mich?« Er zwinkerte ihr zu. »Du bist mehr Mann als die meisten Männer, die ich kenne.« Sie dachte an ihren Schlag auf Raffaels Nase und war geneigt, ihm Recht zu geben.
Philippe ergriff ihren Arm und zog sie mit sanftem Nachdruck in die Mitte des Saals, forderte sie auf, sich umzuschauen, und bat sie zu jedem einzelnen Teil des Dekors um Rat. Sie tat ihr Bestes, seiner Erwartung zu entsprechen und musste sich eingestehen, dass er mit seiner Behauptung gar nicht so falsch lag: Wenn es weiblich war, sich den Kopf über Girlanden, Schmuckbänder und Blumengestecke zu zerbrechen, so war sie in der Tat anders als andere Frauen. Philippe, der wohl gehofft hatte, sie möge einige seiner Entscheidungen in Frage stellen, merkte ihre Unbeholfenheit und schien spätestens nach ihrem dritten Ratschlag nur noch aus Höflichkeit zuzuhören.
»Lassen wir das«, sagte er schließlich. »Was führt dich her? Ich dachte, ich sehe dich erst morgen Abend zum Ball.« Seine Brauen rückten näher zusammen. »Du willst doch nicht absagen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, schaute sich um, bemerkte die neugierigen Blicke der Umstehenden und senkte ihre Stimme.
»Kann ich dich unter vier Augen sprechen?«
»Sicher.«
Dankbar registrierte sie den Anflug von Besorgnis in seinem Blick. Sie hätte gleich gestern zu ihm kommen sollen. Da war etwas in seiner Erscheinung, seinem Lachen, aber auch in dem großen Ernst, den er Problemen anderer entgegenbrachte, das ihn zum idealen Gesprächspartner machte. Es hätte sie beruhigt, mit ihm über diese Sache zu sprechen. Zum Glück war es noch nicht zu spät.
Er führte sie in eines der Nebenzimmer. Raffael folgte ihnen in einigem Abstand, aber Philippe schloss die Tür, bevor sein junger Liebhaber zu ihnen aufschließen konnte.
Er goss zwei Gläser Sherry ein, wohl wissend, dass er auch das von Aura würde austrinken müssen. Ihr war nicht nach Alkohol zumute.
»Was kann ich für dich tun, meine Liebe?«
Er war der Einzige, dem sie diese Anrede
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