Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
alles getan. Es gibt nichts Neues mehr. Nichts, das es wert wäre, etwas dafür zu verändern.«
Aura dachte an ihre eigenen Sorgen, an ihre Verzweiflung über den Stillstand, der sie noch bis vor kurzem zu ersticken drohte. Sie war erst vierunddreißig Jahre alt. Innana fast fünftausend.
»Gar nichts?«, fragte Aura.
»Nur eines.« Innana ließ ihren Blick über die braunen Bergkuppen schweifen. »Die Veränderung schlechthin«, sagte sie gedankenverloren.
»Ich verstehe nicht…«
»Warum bist du der Spur des Verbum Dimissum gefolgt?«
Überrascht betrachtete Aura Innanas perfektes Profil. Sie verstand nicht, warum sie das Verbum zur Sprache brachte. Es hatte nichts mit all dem hier zu tun.
Oder aber alles.
»Du suchst das Verbum Dimissum?«, fragte sie ungläubig.
Innana nickte. »Die Veränderung schlechthin«, sagte sie noch einmal. »Das Wort, das die Schöpfung heraufbeschwor. Das Wort für eine neue Welt.« Sie holte tief Luft. »Das Wort, das womöglich selbst die Schöpfung ist.«
In Auras Kopf schwirrten Gedanken, Bilder, Eindrücke umher, ein kreiselnder Wirrwarr aus Unglauben, Fassungslosigkeit und Entsetzen. »Du glaubst allen Ernstes, du kannst mit dem Verbum eine neue Welt schaffen?«
Innana erwiderte trotzig ihren Blick. »Die alte kenne ich in- und auswendig.«
»Aber die Welt verändert sich. Das tut sie ständig. Auch jetzt, in diesem Augenblick.«
»Glaubst du das wirklich? Ich habe Menschen in fünf Jahrtausenden erlebt. Sie waren nicht anders als heute. Der Mensch ist eine langweilige Spezies. Warum sonst hätte er es nötig, sich Götter zu erschaffen?«
»Aber du bist keine Göttin!«
»Kann ich dessen sicher sein?« Innana kaute auf ihrer Unterlippe. »Keiner von uns weiß, was einen Gott ausmacht. Vielleicht bist du selbst irgendwann einer, in ein paar hundert oder ein paar tausend Jahren. Götter sind nicht – sie werden gemacht! Und mich haben die Menschen gleich zweimal zur Göttin erklärt. Habe ich da nicht das Recht, die Welt neu zu schaffen?«
»Aber das Verbum ist nur eine Legende.«
»Der Gral jedenfalls ist keine.«
»Du hast ihn gesehen?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Innanas Züge. »Es ist lange her. Damals war er nichts als ein Tonbecher, wie all die anderen, die rund um das Feuer standen in jener Nacht.«
»Jener Nacht?«
»Du weißt, welcher. Der Nacht, in der Jesus Abschied von seinen Jüngern nahm.«
Aura wandte sich ab, ging zwei Schritte auf der Turmplattform auf und ab und kam wieder neben Innana zum Stehen.
»Das ist lächerlich!«
»Ich war dabei, Aura«, sagte das Mädchen eindringlich. »Ich war eine Hetäre, das habe ich dir gesagt.«
»Du warst… Maria Magdalena?«
Innanas Lachen schallte glockenhell über den See. »Maria Magdalena? Liebe Güte, Aura… Nein, sie war ich nicht. Aber ich war eines der Mädchen, das für sie gearbeitet hat, damals in der Nacht seines Abschieds.«
»Ich verstehe nicht.« Aber natürlich tat sie es doch.
»Es war ein Gelage. Glaubst du wirklich, diese Männer hätten nur dagesessen, das Brot gebrochen und am Weinkelch ihres Meisters genippt?« Sie schüttelte den Kopf und winkte ab. »Es waren eine Menge Mädchen da, mindestens zwei für jeden Mann. Maria Magdalena hatte uns ausgewählt. Sie hatte uns Geld versprochen, und Geld haben wir bekommen. Ich saß auf dem Schoß von… ich weiß nicht, ich habe seinen Namen vergessen. Jedenfalls saß ich auf seinem Schoß, als Jesus den Becher hob und seinen Trinkspruch ausbrachte. Ja, Aura, ein Trinkspruch – nicht mehr. Ausgesprochen über einem Becher aus Ton.«
»Dem Heiligen Gral.«
»Es war nichts Heiliges an ihm, wenn du mich fragst. Ein Wunder, dass er die Jahrhunderte überstanden hat. Jesus’ Anhänger fassten ihn schließlich in Gold und Silber, und so begann er seine Reise durch die Tempel und Kirchen und Krypten des Abendlandes. Wer zu welcher Zeit das Verbum Dimissum hineingekratzt hat, weiß ich nicht. Und auch ob es das echte ist, das wahre Wort der Schöpfung… wir werden sehen.« Sie seufzte erneut und sah Aura lange in die Augen. »Aber wir werden es sehen, Aura, so viel steht fest.«
Aura lehnte sich an die Zinnen und krallte ihre Hände um raues Gestein. »Du willst das Verbum aussprechen?«
»Ja.«
»Und du hoffst, die Welt wird dann eine andere sein?«
»Man übersteht keine fünf Jahrtausende ohne Hoffnung.« »Hoffnung auf was? Auf die Zerstörung der Welt?« »Nein«, sagte Innana. »Auf einen Neubeginn. Und ich
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