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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte. So viel Schmerz war darin, so viel Sehnsucht, so viel Wissen. Wie alt sie wirklich war, vermochte Aura nicht abzuschätzen, aber gewiss war sie kein siebzehnjähriges Mädchen mehr.
    Eine Unsterbliche, Aura. Genau wie du. Mit dem Unterschied, dass sie seit einer Ewigkeit existiert.
    Aura machte einen Schritt, dann noch einen. Zögernd überwand sie ihre Scheu und ging weiter.
    Schließlich standen sich die beiden direkt gegenüber.
    »Der Alte hat mir von dir erzählt«, sagte Innana. »Er hat oft von dir gesprochen, und von dem, was du bist. Ich konnte es nicht erwarten, dir endlich zu begegnen.«
    Aura musterte sie skeptisch. »Du bist keine Göttin«, sagte sie.
    »Manchmal ist es von Nutzen, wenn die Menschen das glauben.«
    »Dann ist Innana nicht dein wirklicher Name?«
    »Er ist längst dazu geworden.«
    »Und dein wahrer Name?«
    »Vergessen, vielleicht«, sagte Innana mit einem Achselzucken.
    War es möglich, dass man den eigenen Namen vergaß? Es war, als stieße Aura mit dieser Frage gegen eine Wand, die sie nicht durchdringen konnte. Das also ist es, was aus dir werden könnte.
    Plötzlich hatte sie Mitleid mit ihrem Gegenüber. Gab das Alter – Tausende und Abertausende von Jahren – einem Menschen den Anschein von Göttlichkeit? War das etwa die Erwartung, die man selbst ab einem gewissen Punkt an die Ewigkeit stellte?
    Entstanden so Götter? Wahre Götter?
    Innana lächelte und nestelte an einer Brosche ihres Kleides. Auch dieses Schmuckstück bestand aus Knochen. Sie sahen aus, als wären sie miteinander verknotet. »Ich habe vieles vergessen. Nicht al-les, aber vieles.«
    »Weißt du noch, wie du zu dem geworden bist, was du heute bist?« Sie hatte das Gefühl, mit einem Kind zu sprechen, und sie fühlte sich unwohl dabei. Aller Wahrscheinlichkeit nach – vorausgesetzt, dies alles war nicht nur eine List Cristóbals – gab es nirgends auf der Erde ein Geschöpf, das älter war als dieses Mädchen.
    »Wie ich zu dem geworden bin…«, wiederholte Innana verträumt. »Gewiss.«
    »Wirst du es mir erzählen? Deshalb wolltest du doch, dass ich zu dir komme – um zu reden, nicht wahr?«
    »Es gibt nicht mehr viele wie uns.«
    »Aber es gibt andere?«
    »Ich konnte einen spüren. Der, der mit dir gekommen ist.« Aura nickte. »Konstantin.«
    »Er ist einer von uns. Älter als du. Aber immer noch so unfassbar jung.«
    »Wie alt bist du, Innana?«
    »Ich bin einem König begegnet, und ich habe ihn bestohlen. Ich bin die Schlange.«
    Aura brauchte einen Moment, ehe sie den Sinn dieser Worte erkannte. »Die Schlange? Du hast…«
    »Ich habe dem König Gilgamesch das Eine gestohlen, was er mehr begehrte als alles andere auf der Welt. Das Eine hat viele Namen.«
    »Das Gilgamesch-Kraut«, sagte Aura benommen.
    »So hat der Alte vom Berge es genannt«, sagte Innana. Sie be-stand offenbar auf dieser Bezeichnung, statt Cristóbal beim Namen zu nennen.
    »Aber Gilgamesch hat vor fast fünftausend Jahren gelebt!«
    »Es ist lange her.« Innanas Gleichgültigkeit war nicht gespielt. Sie hatte die Jahre nicht gezählt, und falls irgendwer ihr Zahlen genannt hatte, so hatte sie sie längst wieder vergessen. »Komm, lass uns auf den Turm gehen.«
    Aura folgte ihr an der Werkbank und den Knochenhaufen vorbei zur Treppe. Sie stiegen die Stufen hinauf und betraten durch eine Luke das Plateau des Turms. Die Sonne tauchte den See, die kleine Insel in seiner Mitte und die Weite der Sierra in gleißende Helligkeit. Nach dem Zwielicht im Innern brannte das Licht in Auras Augen. Der Wind war beinahe völlig zum Erliegen gekommen, die Mittagshitze schien alles Leben erdrücken zu wollen. Dennoch war sie froh, dass Innana sie hierher geführt hatte. Die Welt schien hier realer, greifbarer zu sein.
    »Ich war ein gewöhnliches Mädchen in einem Dorf in den Bergen, irgendwo am Rand der Großen Wüste«, sagte Innana.
    »Unser Vieh ist an einer Krankheit verendet, und die Wasserstelle, aus der ganze Generationen meiner Vorfahren getrunken hatten, war von einem auf den anderen Tag verdorben. Die Menschen wurden krank, und viele starben sehr schnell. Niemand half uns, und das einzige andere Wasserloch war heilig, nicht für die Menschen bestimmt – so zumindest lehrten es die Ältesten, und keiner wollte den Zorn der Götter auf sich ziehen. Ich war nur ein Mädchen, und ich dachte: Wie kann der Zorn der Götter schlimmer sein als unser Elend, wo wir doch alle verhungern und verdursten werden?
    So verließ ich unser Dorf

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