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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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aufgestanden und hatte sich einen weiteren Sherry eingeschenkt. Mit dem Glas in der Hand ging er im Zimmer auf und ab. Dicke Teppiche dämpften seine Schritte bis zur Lautlosigkeit. »Und die Rosenfenster?«
    »Manche behaupten, die Rosen mit den sechs Blättern seien verschlüsselte Symbole für den Stein des Magus mit seinen sechs Spit-zen. Und, wie gesagt, in manchen Kathedralen haben die Rosen tatsächlich mehr Ähnlichkeit mit einem Stern als mit einer Blüte. Für jene Alchimisten, die glauben, dass alle Kathedralen im Grunde nichts anderes sind als steinerne Lehrbücher zur Vollendung des Großen Werks hat der Stern noch eine weitere Bedeutung. Sie sehen in ihm das universelle Zeichen, das sie zum Ziel führen wird, zur Weisheit – und zur Unsterblichkeit.«
    Das Wort kam ihr wie immer ein wenig zu rasch über die Lippen. Der Klang war ihr unangenehm.
    Philippe schob das leere Glas beiseite. »Der Stern des Magus als eine Art Wegweiser zum Stein der Weisen?«
    Sie nickte. »Wer dem sechsstrahligen Stern folgt, wird irgendwann ans Ziel gelangen.«
    »Und du glaubst, die blutige Hand war tatsächlich gar keine Hand, sondern…«
    »O doch, es war eine Hand, ohne jeden Zweifel. Aber sie hatte sechs Finger. So viele wie der Stern Strahlen und die Rose der Rota Blätter hat. Verstehst du, Philippe? Die Hand war ein Zeichen speziell für mich. Von jemandem, der genau wusste, dass ich die Bedeutung früher oder später durchschauen würde. Jemand, der weiß, wer ich bin.«
    Philippe legte die Stirn in Falten und schwieg eine ganze Weile, sehr viel länger, als sie es von ihm gewohnt war. Er stand auf und begann erneut, vor dem Kamin auf und ab zu gehen, ein Zeichen dafür, dass er grübelte.
    Schließlich blieb er stehen. »Denkst du, es war eine Drohung?«
    »Darüber habe ich lange nachgedacht. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keine war. Der Stern des Magus ist ein Wegweiser, keine Warnung.«
    Philippe seufzte und fuchtelte fahrig in der Luft herum. »Aber wa-rum dann das Blut? Er hätte Tinte benutzen können.«
    »Wir haben es offenbar mit jemandem zu tun, der einen gewissen Sinn für Theatralik besitzt.«
    »Es könnte auch bedeuten, dass der Weg, auf den er dich führen will, ein gefährlicher ist.« Er sah sie eindringlich an. »Einer, den du besser nicht einschlagen solltest.«
    »Möglicherweise.« Etwas Sonderbares geschah mit ihr. Gestern Morgen, als sie den Abdruck entdeckt hatte, hatte sein Anblick sie zutiefst verstört. Den ganzen Tag über hatte sie es nicht fertiggebracht, sich weiter mit der Suche nach dem Verbum Dimissum zu beschäftigen. Stattdessen hatte sie möglichen Bedeutungen der sechsfingerigen Hand nachgeforscht und sich schließlich an die Geschichte des Sterns erinnert. Noch auf dem Weg hierher war sie unsicher gewesen. Nun aber, da sie mit Philippe darüber sprach, wurde sie immer neugieriger. Sie war auf etwas gestoßen – besser noch: gestoßen worden –, etwas, das sie persönlich betraf, ganz anders als der abstrakte Begriff des Verbums. Die Suche nach dem Wort war nur ein Ersatz gewesen für ihre Suche nach sich selbst. Der Stern des Magus jedoch schien etwas sehr Konkretes zu bezeichnen. Jemand versuchte, sie auf etwas aufmerksam zu machen. Was die monatelange Beschäftigung mit dem Verbum nicht bewirkt hatte, vollbrachte der Stern des Magus nun innerhalb weniger Stunden: Ein erster Schritt in die Richtung ihres alten Selbst, zurück zu einer Wissbegier, die sie verloren geglaubt hatte. Die Alchimie hatte ihr zuletzt nur noch wenige Reize geboten. Nun aber war da etwas Neues, ein Geheimnis, das in einer direkten Verbindung zu ihr stand. Es hatte sich auf ihrem Bett niedergelassen und sie aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Der Stern des Magus wies ihr den Weg.
    »Ein Stern allein zeigt noch keine Richtung an«, sagte Philippe.
    »Deshalb warte ich darauf, dass ein zweiter auftaucht.«
    Philippe stieß einen Seufzer aus. »Du bist unvernünftig, mein Kind. Zutiefst unvernünftig. Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass du heute deine Zimmertür unverschlossen lässt.«
    Sie beugte sich vor und ergriff seine Hand. Zum ersten Mal fielen ihr seine Altersflecken auf. Er hatte sie nie gebeten, ihm das Geheimnis des Gilgamesch-Krauts zu verraten. Niemand außer Gillian wusste, dass es im Dachgarten von Schloss Institoris auf dem Grab ihres Vaters wuchs. Auf dem Grab eines Unsterblichen, dem einzigen Ort, wo es gedeihen konnte.
    »Du musst keine Angst um mich haben«, sagte

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