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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geballt.
    Cristóbal hob die Pistole um eine Winzigkeit.
    »Nein!« Tess’ Stimme hallte von den engen Wänden wider und übertönte Gians Schrei.
    Einen Moment lang war Cristóbal abgelenkt – und gab damit Gian die Zeit, ihn zu erreichen. Der Junge stieß sich im Lauf vom Boden ab, warf sich auf den Großmeister und riss ihn zu Boden. Die Pistole löste sich aus Cristóbals Fingern und schlitterte aus Tess’ Blickfeld in den Raum hinter der Tür.
    Es gelang Gian, einen Schlag in das Gesicht des Grafen zu platzieren. Dann ging alles rasend schnell.
    Tess hatte sich gleichfalls in Bewegung gesetzt, aber sie lief nicht fort, wie Gian es gewollt hatte, sondern rannte auf die beiden Kämpfenden zu. Sie hatte sie fast erreicht, als Cristóbals seinerseits einen zornigen Ruf ausstieß. Das Nächste, was Tess sah, war Gian, wie er hochgeschleudert wurde und hinter der Tür mit einem dumpfen Laut aufprallte. Cristóbals Bewegungen waren so schnell, dass Tess kaum wahrnahm, wie er aufsprang, sich umdrehte und mit wenigen Sätzen hinter Gian her in den Raum eilte. Tess erreichte gerade die Tür, als sie sah, wie der Graf sich bückte, die Pistole wieder an sich nahm und auf Gian richtete.
    »Nein«, stieß sie noch einmal hervor, leiser diesmal, hilfloser und irgendwie sicher, dass es nichts ändern würde: Cristóbal würde Gian erschießen. In seinen Augen hatte der Junge seine Schuldigkeit ge-tan. Er war ein perfekter Lockvogel gewesen, und er hatte ihm das Versteck des Grals genannt.
    Das Versteck des Grals?
    Tess stutzte plötzlich. Sie kannte diesen Raum. Es war die Kammer aus Nestors Erinnerung. Hier hatten die Katharer die Reliquie aufbewahrt, und hier hatte Nestor die Ordensbrüder mit seinen Schwerthieben niedergemacht, bevor er den Gral zerschlagen und die Reste zu Staub zertreten hatte.
    Sie sah alles wieder vor sich. Die Vergangenheit legte sich wie ein hauchdünner Schleier über die Gegenwart: Nestor, der die Schale vom Sockel nahm, hochhob und mit aller Kraft zu Boden schleuderte; Tonscherben, die in alle Richtungen spritzten; der goldene Stiel, der auf Stein klirrte wie ein wertloses Stück Metall.
    Und dahinter, wie ein Gespenst, sah sie immer noch Cristóbal mit der Waffe. Gian lag vor ihm am Boden. An Gians Miene erkannte sie, dass er dieselben Bilder sah wie sie, dass da wieder diese unsichtbare Verbindung zwischen ihnen war, dieser Austausch von Energien, für die es keinen Namen und keine Erklärung gab. Die Verbindung war da, auch ohne dass sie einander berührten, so als wäre die Atmosphäre dieses Ortes stark genug, um die Erinnerungen in ihnen beiden zurückzubringen.
    Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren. Der Schlüssel zu… ja, zu was? Nichts, das jetzt noch eine Bedeutung hatte. Cristóbal würde sie beide töten.
    Die Vergangenheit erlosch. Nestor, der verstoßene Tempelritter, wurde zu einem nebeligen Umriss, verblasste dann völlig.
    Auch die Scherben des Grals verschwanden, verweht von den Winden der Zeit.
    »Wo ist er?«, fragte Cristóbal, und Tess bemerkte, dass seine Hand mit der Waffe zitterte. Vor Erregung, dachte sie erst, aber dann sah sie die tiefe Wunde, die Gians Fingernägel wie Raubtierkrallen in Cristóbals rechten Handrücken gegraben hatten.
    »Wo ist der Gral?«, fragte er noch einmal.
    Gian lag am Boden, aber er hatte den Oberkörper halb aufgerichtet und stützte sich auf einen Ellbogen. Blut lief aus einer Platzwunde an seinem Haaransatz.
    »Er ist irgendwann hier gewesen, nicht wahr?« Cristóbal atmete schwer. Er stützte seine Rechte jetzt mit der linken Hand, um das Zittern zu unterbinden. Es gab keinen Zweifel, dass er Gian auf eine Entfernung von wenigen Metern treffen würde.
    »Das hier ist der Raum«, sagte Tess und wählte ihre Worte so unverbindlich wie möglich. »Hier haben wir ihn gesehen.«
    »Und wo ist er jetzt?«
    Tess zögerte. Gian verlagerte seine Position und starrte Cristóbal hasserfüllt an. Da war keine Furcht in seinem Blick, keine Sorge um sein eigenes Leben. Tatsächlich sah er aus, als würde er sich jeden Moment erneut auf den Grafen stürzen, auch wenn er wissen musste, dass er nicht die Spur einer Chance hatte.
    »Er war hier«, sagte Tess noch einmal und bemerkte selbst, wie stockend die Worte über ihre Lippen kamen.
    »Diese Kammer ist schon vor Jahren gründlich durchsucht worden«, sagte Cristóbal. »Jeder Zentimeter, jeder Winkel – und niemand hat jemals ein Geheimfach oder eine Tür gefunden. Nichts, was auf ein

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