Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Versuche, sie bloßzustellen, wurden von Mal zu Mal kindischer. Es war kein weiterer Beweis mehr nötig, um ihr klarzumachen, dass er nichts mit der sechsfingerigen Hand zu tun hatte. Ohne echtes Interesse schaute sich nach ihm um.
»Wo steckt er?«
Philippes Miene verdüsterte sich. »Zuletzt hat er sich mit ein paar jungen Kerlen im Garten rumgetrieben. Diese Schnösel hätten meine Söhne sein können.«
Sie nahm Philippes Hand und drückte sie. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, ein paar Dinge über Raffael loszuwerden, aber sie wollte nicht, dass er glaubte, sie wolle seinen jungen Liebhaber im Gegenzug für dessen Albernheiten schlecht machen.
»Schau mich nicht so mitfühlend an«, sagte er und lächelte halbherzig. »Irgendwer könnte noch denken, mein Schoßhund wäre weggelaufen.«
»Dein Vergleich, nicht meiner.«
»Wenn du Raffael besser kennen würdest, wüsstest du vielleicht seine Qualitäten zu schätzen.«
»Das würde ich, ehrlich gesagt, lieber vermeiden.«
Philippe lächelte süffisant. »Er hat auch Talente außerhalb des Schlafzimmers, meine Liebe… Hast du schon das Büfett gesehen?«
»Ich bin sicher, es ist fantastisch.«
»Du hast keinen Hunger?« Einen Moment lang fürchtete sie schon, er würde sich pathetisch an die Stirn schlagen; sie wusste zu würdigen, dass er es nicht tat. »Natürlich!«, sagte er. »Die Hand! Sie ist wieder aufgetaucht, nicht wahr?«
Aura nickte. Philippe umfasste sanft ihren Oberarm und schob sie aus dem Gewimmel der Gäste in einen Durchgang. Auch im angrenzenden Saal tummelten sich Maskierte, nippten an Champagner, flirteten oder lauschten dem Spiel des Orchesters. Einige drehten auf der Tanzfläche Pirouetten. Die Stimmung war ausgelassen. Aura spürte, wie die gute Laune auf sie abfärbte. Zu gerne hätte sie für ein paar Stunden alle blutigen Handabdrücke und die Sorgen um ihre Familie vergessen und sich ganz dem Trubel der Feier hingegeben. Tanzen und lachen und über nichts reden. Ein Abend der netten Belanglosigkeiten.
Im Durchgang zwischen den Sälen, prunkvoll getäfelt wie alle Räume des Palais, erzählte Aura Philippe, was passiert war.
»Woher konnte er wissen, dass du in den Laden gehen würdest?«, fragte er, nachdem sie geendet hatte. »Warst du mit irgendwem dort, außer mit mir?«
»Nein.«
»Ich zumindest hab keinem davon erzählt.«
»Und Raffael?«
»Interessiert sich nicht für Bücher. Und schon gar nicht für Alchimie. Ich war einmal mit ihm dort, und er hat nichts anderes getan, als eine Stunde lang durchs Schaufenster auf die Straße zu stieren.«
»Du hast ihm nicht erzählt, dass du mir das Geschäft gezeigt hast?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir haben natürlich über dich gesprochen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich das erwähnt hätte. Abgesehen davon ist es lächerlich, Raffael zu verdächtigen.« So, wie er es sagte, klang es nicht beleidigt oder verärgert, eher so, als teilten sie und er ein Geheimnis über Raffael: Dass Philippes junger Liebhaber weder einfallsreich noch klug genug war, um Aura auf diese Weise einen Schrecken einzujagen.
Sie stimmte ihm zu. »Er hätte niemals vorhersehen können, dass ich die Verbindung zwischen dem Abdruck auf meinem Bett und die-sem Buch herstellen würde.«
»Also – wer kommt noch in Frage?« »Mir fällt niemand ein.« »Hast du diesen Grimaud schon aufgesucht?« »Nein. Kennst du ihn?« »Nur vom Hörensagen. Es heißt, er sei Mitglied in verschiedenen alchimistischen und okkulten Zirkeln gewesen, ehe er sich aus allen zurückzog und ganz auf seine Forschungen konzentrierte. Aber das ist nichts Besonderes. Die Fluktuation in den Alchimistengruppen hier in der Stadt ist enorm.«
»Das verrät einiges über ihre Ernsthaftigkeit.«
»Ach, Aura, du darfst diese Dinge nicht so verbissen sehen. Die Alchimie ist nicht mehr dieselbe finstere Geheimwissenschaft wie vor hundert oder zweihundert Jahren. Jedes Kind kann sich Literatur darüber besorgen. Schon dein Vater hätte das erkennen können, hätte er sich nicht all die Jahre auf diesem Felsen in der Ostsee eingeschlossen.«
Er sprach über Nestor, aber sie wusste, dass er in Wahrheit sie meinte. Sie hatte immer noch Mühe, über den Tellerrand ihrer Stu-dien zu blicken. Manchmal war ihr, als wäre mit ihrem Alter auch die Zeit in ihrem nächsten Umkreis stehen geblieben, während sich außerhalb dieser Seifenblase alles immer schneller drehte. Sie hatte Mühe, Schritt zu halten, und war sich
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