Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
war. Höchstens ein paar Meter. Mit einem erschöpften Schrei warf sie die Tür hinter sich zu. Ihre Hände fanden blind den Riegel und schoben ihn vor.
Sie befand sich in einer Hütte ohne Fenster, die längst nicht mehr benutzt wurde. Stroh oder Heu, das einst hier gelagert worden war, war schon lange aufgebraucht oder zu Staub zerfallen. Der Schuppen war leer. Es gab nichts, hinter dem sie sich hätte verstecken können.
»Hallo?«
Ihre Stimme klang genauso zaghaft wie das Rascheln, das sie aus der Dunkelheit zur Antwort bekam.
Sie wich zurück, bis sie das Holz des Eingangs im Rücken spürte.
»Ist da jemand?«, flüsterte sie.
Ein Umriss setzte sich aus den Schatten zusammen, baute sich vor ihren Augen zu einer menschlichen Gestalt auf.
Sie rührte sich nicht. Zu spät.
Irgendwann bleibt einem nichts mehr zu tun, als sich die Niederlage einzugestehen.
Ihr Verfolger hatte die Hütte umrundet und war unbemerkt durch eine Hintertür eingetreten. Ein Lichtschimmer brach sich auf seiner Schwertklinge, ein gebogenes Grinsen aus Stahl, das ihr aus dem Dunkeln entgegenleuchtete, während sie an eine Wand zurückwich.
Gehetzt atmete sie aus und ein. Zugleich überkam sie eine sonderbare Ruhe. Ihr Verstand wiegte sie in Sicherheit. Das würde es einfacher machen. Kein Widerstand mehr. Keine falschen Hoffnungen.
Ihre Hände ballten sich hinter ihrem Rücken zu Fäusten. Dabei trafen die Finger ihrer Rechten unvermittelt auf etwas Hartes, Hölzernes. Ein Stiel. Vielleicht nur ein alter Besen. Vielleicht auch…
Sie riss den Stab nach vorne, geradewegs auf ihren Gegner zu, und im Dunkeln glaubte sie zu erkennen, wie das Grinsen seiner Klinge von drei stählernen Fangzähnen beiseite gewischt wurde.
Die Zinken der Mistgabel stießen in seine Brust. Lautlos sank er zusammen. Tess ließ den Stiel los. Die Gabel steckte noch in ihm, als er rücklings auf den Boden fiel. Das Schwert entglitt seinen Fingern.
Tess brauchte einen Moment, ehe sie realisierte, was sie getan hatte. Sie hatte einen von ihnen erledigt.
Du hast einen Menschen getötet. Ich habe einen Menschen getötet.
Sie biss sich hart auf die Unterlippe, schmeckte Blut und trat auf den Mann am Boden zu.
Er lebte noch. Seine linke Hand umklammerte den Schaft der Mistgabel, als wollte er sie nicht mehr hergeben.
Sie konnte seine Augen zwischen den schwarzen Gesichtsbandagen sehen. Den gehetzten Blick, als er beobachtete, wie sie sich über ihn beugte. Nach den Rändern des schwarzen Stoffs über seinem Kopf griff. Die Bandagen herunterzog.
»Großer Gott!«
Es war kein Mann, sondern ein Junge. Kaum älter als sie selbst, sechzehn oder siebzehn. So alt wie Gian.
Seine Lippen bebten, als Blut aus beiden Mundwinkeln quoll, zwei gleichförmige Bögen um sein Kinn bildete und auf den Boden tropfte. Falls dies ein Versuch war, zu sprechen, so missglückte er. Keine Silbe drang hervor, nur ein Zischen. Sie fragte sich, ob seine Lunge gerade in sich zusammensank. Aber hätte er dann nicht tot sein müssen?
Mit zitternden Fingern ergriff sie seine Hand und löste die Finger vom Schaft. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu widersetzen. Es gab keinen Zweifel, dass er sterben würde – aber noch lebte er, und sie brachte es nicht über sich, ihn einfach liegen zu lassen und wegzulaufen.
Er wollte dich töten!
Ja, und jetzt habe ich ihn getötet. Aber soll ich mich darüber freuen?
Sie suchte in sich nach einem Gefühl von Triumph, nach Erleichterung oder irgendeiner Form von Freude darüber, dass es ihr gelungen war, einen von ihnen zu bezwingen. Gut möglich, dass er es gewesen war, der die Frau des Professors ermordet hatte.
Gott, wenn er nur schon tot wäre!
Seine Fingerspitzen berührten ihre Hand, ganz sanft nur, ein zartes Schaben von Haut an Haut. Sie konnte seinen Herzschlag hören.
Sein Blick suchte den ihren, aber sie hatte das Gefühl, dass er durch sie hindurchschaute oder vielleicht jemanden anderen in ihr sah, seine Mutter vielleicht oder eine Freundin, eine Schwester. Bestimmt nicht seine Mörderin.
Sie ließ eine Hand unter der seinen liegen und schob die andere unter seinen Hinterkopf. Sein Herzschlag war so laut, als wäre es ihr eigener. Er wurde unregelmäßiger, die Schläge kamen versetzt, lückenhaft. Und noch immer lebte er, klammerte sich an ihrer Hand fest und starrte sie an, als erfüllte ihn ihr Anblick mit völliger Fassungslosigkeit. Seine Augen waren blau oder grau, das konnte sie im Zwielicht nicht genau erkennen. Eine
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