Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
schmeckte salzig. Nach ein paar Schritten an Land stolperte sie und spie Erbrochenes in den Sand, Brotreste vom Abend und Wasser, so viel Wasser. Ihr wurde schwarz vor Augen, und als sie wieder zu sich kam, lag sie am Boden. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Nur Sekunden, vielleicht. Womöglich auch kostbare Minuten.
    Unsicher rappelte sie sich auf. Die Lichter waren jetzt näher, aber sie hatte sich getäuscht, als sie angenommen hatte, die Häuser ständen gleich am Ufer. Ein breiter Sandstreifen erstreckte sich vor ihr, dahinter steiniges Geröll.
    Aber sie würde auch das schaffen. Irgendwie.
    Sie ließ den Sand hinter sich, schleppte sich weiter vorwärts, zur anderen Seite des Geröllfeldes, über ein ausgedörrtes Feld und dann, fast auf allen vieren, weiter in Richtung der Lichter, der Fenster, der Menschen.
    Jetzt erkannte sie Umrisse von Dächern und kleinen Türmen, von Kuppeln und erleuchteten Scheiben. Die Architektur wirkte orientalisch, und zum wiederholten Male fragte sie sich, wohin das Schiff sie gebracht hatte. War das hier noch Persien? Arabien? Vielleicht Nordafrika?
    Aber da waren auch andere Bauten, die mittelalterlich anmuteten, wahllos eingesprenkelt in das Bild dieser Ansiedlung. Wo gab es ein solchen Durcheinander von Baustilen?
    In einem hatte sie sich ebenfalls geirrt: Es war kein Dorf im herkömmlichen Sinne, auch keine Hafenstadt mit Gendarmen oder Militär, wie sie inständig gehofft hatte. Vielmehr schien es sich um die Überreste einer Festungsanlage zu handeln, keine Burg, kein Schloss, nur eine befestigte Ansammlung von Bauten, deren Außenmauer an zahllosen Stellen eingestürzt war und so das Licht der Fenster bis aufs Meer hinaus schimmern ließ.
    Sie erreichte einen der schmaleren Durchbrüche, kämpfte sich eine Böschung empor, durch den breiten Spalt im Mauerwerk und auf der anderen Seite wieder einige Schritte nach unten. Sie befand sich jetzt in einer Gasse zwischen Mauerwall und Häuserfronten. Die meisten Gebäude schienen leer zu stehen, viele hatten keine Dächer mehr, waren beschädigt. Von weitem hatte sie mehr Lichter gesehen, als es tatsächlich waren. Eine Täuschung, die sie erst ihren Tränen, dann dem Salzwasser zu verdanken hatte.
    Gerade wollte sie auf eines der hellen Fenster zugehen, in einem Haus, das offenbar bewohnt war, als sie eine Bewegung bemerkte. Schräg hinter ihr, am anderen Ende der Gasse. Der Umriss eines Mannes.
    Ihre Entführer hatten sie gefunden.
    Tess nahm ihre verbliebene Kraft zusammen und rannte los, an dem erleuchteten Haus vorüber, um eine Ecke, tiefer ins Zentrum dieser merkwürdigen Siedlung.
    Maurisch, durchfuhr es sie. Das ist die Architektur der Mauren, errichtet auf den Überresten sehr viel älterer Bauten. Sie hatte darüber gelesen – in der Abgeschiedenheit von Schloss Institoris hatte sie viel Zeit mit Büchern verbracht. Sie konnte schließlich nicht den ganzen Tag am Strand ausreiten.
    Maurisch und – ja, was noch? Etwas Klobiges. Römisch vielleicht. Oder Gotisch. Im Vorbeilaufen sah sie zerfallene Arkadengänge mit gekreuzten Bögen, überzogen von einem Netzwerk ziselierter Muster, denen Wind und Wetter kaum etwas hatten anhaben können.
    Ihr fiel nur ein Land ein, in dem sich europäisches Mittelalter und die Baukunst des Orients derart miteinander verflochten hatten.
    Spanien. Sie war in Spanien!
    Sie wäre erneut in Tränen ausgebrochen, wäre da nicht die entsetzliche Angst gewesen, die sie immer weiter vorwärts trieb, hart an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Angst, die ihre letzten Reserven mobilisierte.
    Lauf! Lauf schneller!
    Die Männer vom Boot waren ihr gefolgt; wahrscheinlich war Tess doch länger bewusstlos gewesen, als sie gedacht hatte.
    Sie waren jetzt hinter ihr. Sie kamen näher, und sie kamen mit den gleichen lautlosen Schritten, mit denen sie sich durch die Gänge des Schiffes bewegt hatten. Geisterhaft still, selbst dann noch, wenn sie rannten.
    Tess blickte im Laufen über die Schulter nach hinten. Da war nichts als eine Unruhe in der Schwärze zwischen den Häusern, wie sanfte Wellen, die ein Vorhang schlägt, wenn jemand von hinten dagegen atmet.
    Dann sah sie ihn.
    Es war nur einer. Auf der Suche nach ihr mussten sie ausgeschwärmt sein. Erschöpft wie sie war, würde er sie in den nächsten Sekunden eingeholt haben.
    Eine offene Tür, links von ihr. Keine zehn Schritte entfernt. Sie rannte hinein, ohne darauf zu achten, wie groß die Entfernung zwischen ihr und ihrem Verfolger

Weitere Kostenlose Bücher