Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
dir keine Sorgen! Denk erst mal nur an dich. Das hier ist dei-ne Chance. Eine zweite wird es nicht geben.
Nach der tagelangen Überfahrt waren sie am Abend an dieser Küste vor Anker gegangen. Am Ufer sah sie die Lichter einer Ansiedlung, sicher keine große Stadt, eher ein Dorf. Sie zählte mehrere Dutzend erleuchtete Fenster. Fenster bedeuteten Häuser, bedeuteten Menschen. Männer und Frauen. Söhne und Töchter. Töchter wie sie. Die-se Menschen würden ihr helfen, ganz bestimmt.
Und Gian?
Sie schüttelte den Kopf, verdrängte all ihre Bedenken und ließ sich langsam an der Bordwand herab. Drei Meter waren sehr viel, und der glatte Schiffsrumpf bot keinen Halt für Füße und Hände. Alles, was sie tun konnte, war die Distanz zum Wasser so weit wie möglich zu verringern, damit das Geräusch ihres Eintauchens niemanden aufschreckte.
Sie hielt die Luft an. Ließ los.
Mit den Füßen zuerst glitt sie ins Wasser. Die Wellen schlugen über ihrem Kopf zusammen. Kerzengerade ließ sie sich ein Stück weit nach unten sinken, dann drehte sie sich in die Horizontale.
Es war unendlich viel dunkler, als sie erwartet hatte.
Sie musste dringend Luft holen, aber sie beherrschte sich einige Schwimmstöße lang, ehe sie so sanft wie möglich ihr Gesicht ins Freie aufsteigen ließ. Ihre Instinkte befahlen ihr, gierig nach Luft zu schnappen, aber es gelang ihr unter größter Willensanstrengung, sich zusammenzunehmen. Wie einen kostbaren Wein ließ sie die Luft über ihre Lippen strömen, atmete langsam und gleichmäßig. Nur kein Laut zu viel. Möglicherweise hielt man schon nach ihr Ausschau, auch wenn das in der Dunkelheit unter dem wolkenverhangenen Nachthimmel sinnlos war. Solange man das Wasser nicht mit Lam-pen absuchte, war sie sicher.
Ein Blick zurück zum Schiff. Dort rührte sich nichts. Reling und Aufbauten waren verlassen. Aber sie wusste, dass sie irgendwo im Dunkeln sein mussten: Männer in schwarzer, eng anliegender Kleidung, Schatten, die erst im Näherkommen an Form gewannen und greifbar wurden. Schlanke, beinahe zierlich gebaute Gestalten, die in einer Sprache miteinander redeten, die Tess nicht verstand. Sie hat-ten keinen Wächter vor Tess’ Tür gestellt, aber die Wachpatrouille schaute in unregelmäßigen Abständen vorbei. Gut möglich, dass sie ihre Flucht gerade in diesem Moment entdeckte.
Ein letztes Luftholen, dann tauchte sie abermals unter. Nach drei, vier Schwimmstößen spürte sie, dass die Tage in der Kabine sie mehr geschwächt hatten, als sie angenommen hatte. Nur dasitzen, nachdenken, die eigene Hilflosigkeit bejammern. Nichts tun, mit niemandem sprechen können. Das war kraftraubender gewesen als die handfeste Arbeit in den Ruinen.
Sogar in dieser Lage, atemlos unter Wasser, in Todesangst, kehrten die Bilder zurück. Schwarze Schemen vor dem Grau der nächtlichen Dünen. Gebogene Klingen, blutig. Eine Gestalt im weißen Nachthemd, halb blind vor Panik, die auf sie zu stolperte, die Hände ausgestreckt. Und wieder der Stahl, wie glasiert im Eislicht des Mon-des.
Luft! Sie brauchte Luft!
Noch zwei Schwimmzüge. Dann brach ihr Gesicht durch die Oberfläche, diesmal nicht ganz so geräuschlos. Vielleicht war sie schon weit genug fort vom Schiff, dass niemand sie mehr hören konnte. Egal. Nur Luft. Luft in ihre Lungen.
Ihre Augen brannten vom Salzwasser. Für einen Moment sah sie überhaupt nichts und fürchtete schon, sie wäre noch immer unter Wasser und atme statt Sauerstoff die salzige See ein, ein letztes Trugbild, bevor der Tod sie holte und in die Tiefe riss.
Ihre Sicht klärte sich genug, um wieder die Lichter am Ufer zu erkennen. Sie war in die richtige Richtung geschwommen. Weiter so, dann war sie vielleicht bald schon in Sicherheit.
Als sie über die Schulter zurück zum Schiff blickte, war es nicht mehr als ein vager Umriss, eine graue, wattige Wolke, die sich drohend auf dem Wasser niedergelassen hatte. Unmöglich zu sagen, ob sie an Deck bereits nach ihr suchten. Sie glaubte Geräusche zu hören, aber sicher war sie nicht, bei all dem Wasser in ihren Ohren. Vielleicht war es nur die Brandung. Oder die Stimmen der Menschen, die sich am Ufer befanden.
Unter ihren Füßen spürte sie weichen Sand, der bei jedem Schritt nachgab und an ihr zerrte, als wollte er sie nach unten saugen. Sie hörte sich selbst keuchen und stöhnen und konnte doch nichts dagegen tun. Ihr Körper folgte nur noch dem Befehl, sich vorwärts zu bewegen. Ihre Augen brannten wie Feuer. Ihr Mund
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