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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mir?«
    »Ja«, sagte Lucrecia. »Nicht ihn selbst. Aber das, was Sie für ihn empfinden. Liebe, sehr viel Liebe. Aber auch Wut und Enttäuschung.«
    »Das sind keine ungewöhnlichen Empfindungen für eine Mutter, denken Sie nicht?«
    »Sicher. Es ist keine große Kunst, das festzustellen. Dazu benötigt man unsere Gabe nicht.«
    »Sie sollten das Wort Gabe nicht allzu oft gebrauchen. Es verliert dadurch seine Glaubwürdigkeit.«
    Lucrecia lächelte, und zum ersten Mal wirkte sie ehrlich amüsiert.
    »Und?« Salome beobachtete Aura über den Tisch hinweg.
    »Haben Sie sich entschieden?«
    »Ob ich hier bleibe? Ja, ich denke schon.«
    »Gut. Dann legen Sie wieder Ihre Hände auf den Tisch. Und schließen Sie die Augen.«
    »Muss das sein?«
    »Vertrauen Sie uns«, sagte Salome noch einmal.
    Aura machte die Augen zu. Es war angenehm warm im Zimmer. Das Licht der Deckenlampe glühte rötlich durch ihre Lider. Durch die dicken Vorhänge drang kein Laut von der Straße, der Raum war von allen äußeren Einflüssen abgeschottet.
    Das Glühen erlosch. Eine der Schwestern musste das Licht ausgemacht haben. Doch als sie die Lider zaghaft wieder hob, brannte die Lampe unvermindert hell.
    »Augen zu«, sagte Lucrecia barsch und fügte freundlicher hinzu: »Bitte.« Ihre eigenen Lider waren geschlossen, und es war Aura ein Rätsel, woher sie wusste, dass Aura die ihren geöffnet hatte. Erfahrung, sagte sie sich. Vermutlich verhalten sich in dieser Situation alle Menschen gleich.
    Erneut machte sie die Augen zu, und diesmal war das rote Glühen sofort verschwunden, so als hätte etwas ihre Lider abgedichtet und die Haut lichtundurchlässig gemacht.
    Die Stille drang von allen Seiten auf sie ein, bündelte sich in ihren Ohren, in ihrem Kopf. Sie hatte das Gefühl zu schweben.
    Die Hände der Zwillinge berührten ihre eigenen, legten sich sanft darüber, streichelten ihre Finger. Aber saßen sie nicht viel zu weit von ihr entfernt? Sie hätten aufstehen und sich zu ihr herüberbeugen müssen. Warum hatte sie dann nichts gehört? Kein Scharren von Stühlen, kein Rascheln ihrer Kleider?
    Sie wollte die Augen geschlossen halten, aber jetzt konnte sie nicht anders. Beunruhigt hob sie zum zweiten Mal die Lider.
    Um sie war Schwärze.
    Vor ihr war kein Tisch mehr, und als sie an sich hinabschaute, konnte sie sich selbst nicht mehr sehen, nicht ihre ausgestreckten Hände, nicht ihre Beine, nicht ihren Leib. Sie war eins geworden mit der Dunkelheit.
    Die Finsternis ballte sich zu etwas zusammen, zu schroffen For-men. Eine Landschaft, so karg und grau wie die erstarrte Lava am Fuß eines Vulkans.
    Eine schwarz gekleidete Gestalt wanderte durch die Einöde, eine Frau, und im ersten Moment dachte Aura, sie sähe sich selbst. Der Anblick erinnerte sie an die seltsamen Spiegelungen, die sie in Phi-lippes Ballsaal gesehen hatte: Ein kurzer Augenblick sie selbst und dann doch jemand anderes, jemand, der zu rasch verschwand, als dass sie Details hätte erkennen können. Im Unterschied dazu hielt diese Frau genauerem Hinsehen stand. Sie hatte langes schwarzes Haar wie Aura, aber es war nach vorne geworfen und verbarg ihr Gesicht so vollständig wie ein Vorhang.
    Die Frau war schwanger; ihr Bauch war rund und vorgewölbt. Aura konnte an der Art, wie sie sich bewegte, erkennen, dass die Schritte ihr Schmerzen bereiteten. Die Wehen kamen in schnellen Abständen, die Geburt des Kindes stand kurz bevor.
    Noch ein Schritt, noch ein schmerzerfülltes Schnappen nach Luft.
    Die Frau stieß einen stummen Schrei aus – Aura hörte keine Geräusche, noch immer nicht –, sank unbeholfen zu Boden, wälzte sich herum und ballte die Fäuste. Ihr Mund war weit geöffnet, aber noch immer verdeckte das Haar den Rest ihrer Züge. Nässe bildete Rinnsale an ihrem Hals. Tränen. Sie tropften zu Boden und benetzten das ausgedörrte Ödland. Wo sie den Stein berührten, sprossen grüne Halme aus dem Grau und öffneten sich zu Klee und Löwenzahn.
    Die Frau spreizte die Beine, als etwas aus ihrem Inneren nach außen drängte. Der Kopf des Kindes ging wie ein Vollmond zwischen ihren Schenkeln auf, gefolgt von zuckenden Gliedern, überzogen mit Blut und Sekreten.
    Aura war selbst Mutter, aber sie fühlte keine Nähe zum Schmerz der Frau. Sie beobachtete die Geburt des Kindes mit einer Mischung aus Distanz und makaberer Faszination.
    Fleisch und Blut und glitzernder Ausfluss. Das feuchte Bündel der Nachgeburt im Schmutz. Und zwei hellblaue Augen. Gians Augen.
    Aura schrie

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