Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
auf, doch ihr eigener Schrei wurde von der Stille verschluckt.
Das bin ich nicht! Nicht ich! Nicht Gian!
Die Frau hatte das Gesicht jetzt in die andere Richtung gewandt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in rasendem Rhythmus. Sie hatte den Schmerz überwunden, doch die Erschöpfung hielt sie noch immer am Boden. Schließlich aber setzte sie sich auf und blickte auf das Kind zwischen ihren Beinen.
Sie warf den Kopf zurück und schrie. Stieß den Geburtsschrei eines Kindes aus, während das Neugeborene schwieg und starrte.
Schwieg und starrte.
Und aus den blauen Augen dampfte die Finsternis empor, wehte wie Rauch über das Land und hüllte abermals alles in Dunkelheit.
Schwarze Isis. Zwei Worte, die plötzlich in ihren Gedanken hingen, lauernd wie schwebende Raubvögel über einem Acker.
»Schwarze Isis.« Jemand sagte es laut, und erst nach einem Augenblick erkannte sie, dass es ihr eigene Stimme war.
»Frau Institoris!«
Sie trieb durch die Finsternis, und da war nur der Schrei, der ihr folgte, und diese beiden Worte, und nun auch noch etwas anderes, eine Stimme…
»Frau Institoris!«
Blut füllte ihr Sichtfeld von allen Seiten, dunkles, tiefes Rot. Sie schwebte wie ein Partikel im Blutkreislauf eines titanischen Lebewesens, trieb durch Aderströme einem pochenden Zentrum entgegen. Und dann gerann das Blut zu etwas Festem, Stofflichen. Zu Samt.
»Frau Institoris, kommen Sie zurück!«
Sie schaute sich blinzelnd um und erkannte den Raum wieder, die roten Vorhänge an den Wänden, die rote Tischdecke, die roten Kleider der Zwillinge.
»Wie… haben Sie das gemacht?«
Salomes Lächeln konnte nicht von ihrer Besorgnis ablenken.
»Nicht wir. Sie selbst. Ich hab vorhin versucht, es Ihnen zu erklären: Wir bringen die Menschen nur auf den Weg. Wohin die Reise führt, liegt nicht in unserer Hand.«
Aura rieb sich die Augen, massierte Wangen und Schläfen.
»Ich habe Kopfschmerzen.«
»Das ist normal«, sagte Lucrecia. »Manche spüren es stärker, andere überhaupt nicht.« Sie schmunzelte. »Der Chevalier konnte eine halbe Stunde lang kaum aufstehen.«
»Ich werd’ mich später darüber freuen.«
Die Zwillinge grinsten einander an. Für einen Augenblick wirkten sie sehr viel älter, als sie tatsächlich waren – und zugleich wie verschmitzte Schulmädchen. »Gar nicht empfänglich für Schadenfreude?«
»Prinzipiell schon. Aber nicht jetzt, glaube ich.«
»Möchten Sie was trinken?«
»Ein Glas Wasser, bitte, wenn möglich.«
»Nicht lieber ein Glas Wein?«
»Bei den Kopfschmerzen? Danke, Wasser reicht.«
Salome verschwand kurz im Vorzimmer, während Lucrecia einen Stuhl heranzog und sich zu Aura setzte. »Wie fühlen Sie sich? Abgesehen von den Kopfschmerzen, meine ich.«
»Gerädert. Verwirrt.«
Lucrecia nickte verständnisvoll. »Wir kennen das.«
»Und Sie machen das allein durch Berührung?«
»Niemand hat Sie berührt.«
»Aber ich hab’s doch gespürt, an den Händen.«
»Glauben Sie mir, weder meine Schwester noch ich haben Ihre Hände berührt.«
Aura schüttelte den Kopf, verzog schmerzerfüllt das Gesicht und presste Zeige- und Mittelfinger fest gegen ihre Schläfen. Salome kehrte zurück und reichte ihr ein Glas Wasser. »Hier, bitte.«
Sie nahm einen Schluck, setzte das Glas kurz ab und trank dann den ganzen Rest auf einmal.
»Besser?«, fragte Salome.
Aura nickte. »Es geht schon wieder.« Sie stellte das Glas auf den Tisch und sah dann von einer Schwester zur anderen. »Sie haben gesagt, ich könnte Kontakt zu meinem Sohn aufnehmen.«
Lucrecias Blick wurde düster »Etwas anderes hat Ihre Gefühle für ihn überlagert.«
»Überlagert?«
»Sie müssen sich das vorstellen wie eine Melodie, die von einer zweiten, lauteren Musik übertönt wird. Die erste ist noch da, genauso stark wie zuvor, aber man kann sie nicht mehr hören. Nur hier und da dringt ein Ton hindurch und sorgt für… nennen wir es Dissonanzen.«
Aura erinnerte sich an die Augen des Neugeborenen. An die Au-gen, die sie so sehr an Gian erinnert hatten. »Sie haben mich noch gar nicht gefragt, was ich gesehen habe.«
»Nicht nötig«, sagte Salome. »Wir sehen das alles genauso intensiv wie Sie.«
Aura starrte sie an. »Ist das Ihr Ernst? Sie meinen, Sie sind… in meinem Kopf gewesen?«
»Nein.« Lucrecia schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »So simpel ist das nicht. Wir sind keine Gedankenleser. Aber wenn einer unserer Klienten eine besonders starke Erfahrung macht, scheint sie auf uns
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