Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
wäre ich eine gottverdammte Heilige aus Porzellan?«
Aura schenkte ihr ein Lächeln, dann öffnete sie die Tür. Zuletzt war sie vor Jahren hier oben gewesen, auf der Suche nach gewissen Büchern in Nestors Bibliothek. Jedes Mal fühlte sie sich, als beträte sie ein Mausoleum zu Ehren ihres Vaters, einen Ort, der so durchdrungen war von seiner Anwesenheit, dass sie am liebsten laut dagegen angeschrien hätte.
Dabei hatte sie nach Nestors Tod selbst viel Zeit hier oben verbracht, vor ihrem Aufbruch nach Swanetien. Sieben Jahre lang hatte sie sich allein in die Geheimnisse der Alchimie eingearbeitet, hatte Hunderte Bücher studiert, Experimente durchgeführt, einsame Erfolge erlebt und Tage der Verzweiflung. Heute war es, als läge das alles ein ganzes Leben zurück.
Tess tastete nach ihrer Hand. War ihr so leicht anzusehen, was in ihr vorging?
Die Vegetation kam ihr heute üppiger vor, ein Dschungel aus Bäumen und mannshohen Farnen, aus exotischen Blüten und Schlingpflanzen, die mit den Jahren weite Teile des Dachgartens umwoben und unbegehbar gemacht hatten.
Das gläserne Dach, das sich über den ganzen Mittelflügel des
Schlosses wölbte, war schmutzig und salzverkrustet, aber bei Tageslicht blieben die Scheiben fast unsichtbar. Nur das rostige Gitterwerk warf ein Netz aus verzerrten Schattenstreben über den Garten. Die Wipfel der Pflanzen berührten mittlerweile die Decke; irgendjemand würde sie bald beschneiden müssen, sonst durchstießen die Äste das Glas.
Vor der Wand aus dschungelähnlichem Bewuchs befand sich eine freie Fläche. Dort stand, mit dem Rücken zur Glasschräge an der Südseite, ein altes Sofa, eingestaubt wie fast alles hier oben. Draußen vor den Scheiben stachen die Zypressen in den wolkigen Mittagshimmel. Sonnenschein und Dämmer wechselten sich schon seit dem Morgengrauen in rasendem Wechsel ab.
Links von Aura und Tess befand sich in einer ummauerten Nische das Alchimistenlabor, Tische und Schränke voller Glasbehälter, verkrusteter Tiegel und Bücher. Jenseits davon führte eine Tür in Nestors Bibliothek, das Archiv allen alchimistischen Wissens, das er auf Schloss Institoris zusammengetragen hatte.
Aura stand eine Weile lang da und ließ die Umgebung auf sich wirken. Tess fiel auf das Sofa, atmete tief durch, hatte aber nicht mit der Staubwolke gerechnet, die von den Polstern aufstob. Fluchend hielt sie die Armbeuge vor die Nase, blieb aber sitzen.
»Ich bin nicht erschöpft«, sagte sie gedämpft. »Falls es das ist, was du denkst.«
»Da sind Fußspuren im Staub.« Aura deutete auf Abdrücke, die vom Eingang zum Labor und von dort aus zur Tür der Bibliothek führten. »Sind die von dir?«
Tess schüttelte den Kopf. »Mutter kommt manchmal hier rauf.«
»Sylvette? Seit wann interessiert sie sich für all das hier?«
»Du unterschätzt sie.«
»Bestimmt nicht. Aber sie —«
»Weißt du eigentlich, wie übel sie es dir genommen hat, dass du Großvaters Leiche ausgegraben hast?«
»Das ist siebzehn Jahre her! Sie hat nie —«
»Manche Menschen verändern sich, wenn sie älter werden.« Tess verschränkte die Arme und grinste. »Nicht nur äußerlich.«
Aura seufzte leise. Nachdem Gillian sie verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, nie wieder über Leben und Tod eines anderen Menschen zu entscheiden. Da das Gilgameschkraut nur auf den Gräbern der Unsterblichen wuchs, hatte sie Nestors Überreste loswerden müssen. Seine Knochen auszugraben war leichter gewesen, als sie erwartet hatte; viel war nach all den Jahren nicht von ihm übrig gewesen. Sie hatte die Gebeine in einen Sack gesteckt und war hinaus aufs Meer gerudert. Nach allem, was sie über seine Verbrechen erfahren hatte, war es ihr nicht schwergefallen, ihn wie Abfall zu versenken.
Seitdem wuchs kein Gilgameschkraut mehr im Glashaus. Und ausgerechnet ihre Schwester sollte das bedauern? Sylvette hatte nie das geringste Interesse an der Alchimie gezeigt. Lysander, ihr leiblicher Vater, hatte sie im Namen der Geheimen Lehre verschleppt, missbraucht und dabei Tess mit ihr gezeugt. Als Aura sie nach vielen Jahren wiedergefunden hatte, in einem Templerkloster im Kaukasus, war Sylvette gezeichnet, aber nichtsdestotrotz entschlossen gewesen, wieder ein normales Leben zu führen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie beachtliches Organisationstalent entwickelt und sich fortan um die Verwaltung des Schlosses und die Güter der Familie gekümmert. Und sie hatte stets betont, dass sie keinerlei Ambitionen hegte, ewig
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