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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zu leben.
    »Sie hat sich in letzter Zeit verändert«, sagte Tess. »Anfangs waren es nur ein paar Bemerkungen, so ein Unterton, aber mittlerweile ist es mehr als das. Sie ist ziemlich verbittert, wenn du mich fragst.«

    »Sie macht mir Vorwürfe? Ich weiß, dass sie wütend ist, weil sie sich um Mutter kümmern —«
    »Alles ist an ihr hängen geblieben«, unterbrach Tess sie. »Du warst nicht da. Und ich irgendwann auch nicht mehr.«
    »Aber sie hat ein Dutzend Dienstmädchen und Hausdiener!«
    »Die größtenteils im Dorf übernachten. Charlotte hat zuletzt kaum noch geschlafen, jedenfalls nicht nachts. Und du kannst es drehen und wenden, wie du willst, am Ende hatte Mutter die gesamte Verantwortung und allen Ärger allein am Hals.«
    Tess war ganz anders als Sylvette, aber in diesem Moment schienen sich die Gesichter der beiden zu überlagern. Mutter und Tochter hatten das gleiche hellblonde Haar, sogar ihre Stimmen ähnelten einander. Doch da war etwas in Tess’ Blick, in ihrem Tonfall. Sie wiederholte nicht nur die Dinge, die sie von Sylvette gehört hatte; sie teilte ihre Meinung, und das geschah nicht oft.
    Umso härter trafen Aura ihre Anschuldigungen. »Sylvette hat das Kraut mir gegenüber seit Jahren mit keinem Wort erwähnt.«
    »Und wie oft warst du hier? Ich meine, wie oft habt ihr wirklich miteinander geredet? Nicht nur über Geschäftliches, sondern darüber, wie« — Tess zögerte – »wie ihr euch fühlt.«
    »Sie hat nie den Eindruck gemacht, als ob —«
    »Hast du sie mal gefragt, wie sie mit alldem hier klarkommt, mit Großmutter und dem Schloss, überhaupt mit diesem ganzen Leben am Ende der Welt?«
    »Natürlich! Sie ist meine Schwester.«
    »Und wie oft hast du dir die Mühe gemacht, es so klingen zu lassen, als ob es dich wirklich interessiert?« Tess’ Lächeln machte es noch schlimmer. Sie kam auf Aura zu, berührte sie am Arm und sagte: »Ich hab dich lieb, Aura, das weißt du. Aber dein Talent, mit anderen Menschen umzugehen, ist nicht gerade dein größtes.«

    »Ist das eine Anspielung auf Gian?«
    Tess nahm ihre Hand. Mit einem Mal stand Wut in ihren Augen, aber sie galt nicht Aura. »Dieser Vollidiot! Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Dass es besser wäre, wenn wir uns nicht wiedersähen.«
    Aura unterdrückte ein Lächeln. Sein Gespür für Diplomatie hatte er von ihr geerbt. Aber sie sah auch, dass Tess aufrichtig unter Gians Wunsch nach Abstand litt. Die beiden waren aufgewachsen wie Geschwister, bis die Katastrophe an der Ausgrabungsstätte von Uruk sie einander entfremdet hatte. Schließlich hatte Tess ihm verziehen, hatte sich zumindest alle Mühe gegeben, und deshalb hatte es sie umso härter getroffen, als er eines Tages verkündet hatte, er wolle fortgehen und, nein, Besuche hielte er für keine gute Idee.
    »Er schreibt ab und an Briefe«, sagte Tess. »Ich hab aufgehört, sie zu lesen, schon vor Monaten. Er schickt sie immer noch hierher ins Schloss. Herrgott, er weiß nicht mal, dass ich schon ewig nicht mehr hier wohne! Mutter sammelt sie für mich, aber ich lege sie ungeöffnet in eine Schublade.«
    »Deshalb hast du ein schlechtes Gewissen? Du hast doch allen Grund, ihm böse zu sein.«
    »Und du? Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
    »Ist eine Weile her.« Drei Jahre. Zu lange für eine Mutter und ihren Sohn. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich vermisst.«
    »Tut mir leid, er ist dein Sohn und alles, aber manchmal —«
    »Verhält er sich wie ein Hornochse, ich weiß.« Eine Woge tiefer Zuneigung überkam Aura. Sie und Tess hatten sich immer nahegestanden. So wie Gian oft Zuflucht bei Sylvettes Häuslichkeit und Ruhe gesucht hatte, war Tess zu Aura gekommen, wenn sie einen Rat oder einfach nur jemanden zum Zuhören gebraucht hatte – eine Erwachsene. Umso absurder schien es, dass Tess heute körperlich ein Jahr älter war als Aura es je sein würde.

    »Komm«, sagte sie schließlich. »Dieses Symbol ... Ich glaube, ich hab es drüben in der Bibliothek gesehen.«
    »In einem der Bücher?«
    Aura schüttelte den Kopf, ging voraus und trat durch die Tür des Laboratoriums.
    Die Bibliothek war groß und unübersichtlich, ein Labyrinth aus Regalwänden, jeder Fingerbreit oberhalb der Bücher ausgestopft mit weiteren, quer gestapelten Bänden. Der Raum nahm den gesamten Speicher des Westflügels ein. Hier bestanden die Schrägen nicht aus Glas, sondern aus Ziegeln und Gebälk. Spärliches Licht fiel durch zwei Fenster in

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