Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
alle tot. Aber das macht Gian nicht gesund.«
Sie gab sich die größte Mühe, klar zu denken, klar zu sprechen. »Wie schlimm ist es?«
»Sie sagen, er wird es vielleicht nicht schaffen.« Er schluckte, ließ ihre Hand los und stand auf. »Die Wahrheit ist: Sie sagen, er schafft es nicht. Kein ›vielleicht‹. Er stirbt, Aura. Nicht heute. Wahrscheinlich auch noch nicht in den nächsten Tagen. Aber er wird es nicht überleben. Sie haben die Kugel aus ihm herausgeholt, und sie war verdammt nah am Herzen. Und die inneren Blutungen hören einfach nicht auf.«
Sie ballte die Fäuste und presste sie so fest sie nur konnte neben sich in die Matratze.
»Ich habe ihn bei denselben Leuten untergebracht, die mich damals gerettet haben, nach dem Kampf in den Katakomben. Sie tun alles, was möglich ist. Er ist nicht bei Bewusstsein, er ... er hat also keine Schmerzen.« Gillian ging zum Fenster und legte die flache Hand auf das Glas, so als wäre es wichtig, dass er gerade jetzt die Kühle des Herbstabends spürte.
»Warum bist du nicht bei ihm?« Sie wusste, wie ungerecht diese Frage war und erst recht der Vorwurf, der darin mitschwang. Aber die Worte kamen einfach so aus ihr heraus, ohne jedes Abwägen.
»Er hat mir gesagt, dass du in Prag bist. Deshalb ist er mir nachgereist. Weil er wollte, dass ich herkomme und dich finde. Und dir helfe, falls es nötig ist.«
»Wir müssen zu ihm.«
»Vorher müssen wir noch etwas anderes tun.«
»Was könnte wichtiger sein, als —«
»Vielleicht gibt es einen Weg, ihn zu retten.« Gillian drehte sich wieder zu ihr um. »Diese Diagnose, dass er stirbt, die gilt für einen normalen Menschen ... Aber was, wenn er wäre wie wir?«
»Unsterblich?« Ein Schluchzen kam über ihre Lippen, das gefährlich nach hysterischem Lachen klang. »Du weißt so gut wie ich, dass eine Kugel uns jederzeit töten kann. Selbst wenn es uns gelänge, ihn rechtzeitig unsterblich zu machen, würde ihn das nicht vor einer Schussverletzung retten.«
»Die Kugel hat ihn nicht getötet!« Er machte zwei schnelle Schritte auf sie zu und setzte sich wieder neben sie. »Sein Körper ist zu geschwächt, um die Blutung von sich aus zu stillen. Das ist das Problem. Wenn er widerstandsfähiger wäre, wenn etwas ihm die nötige Kraft geben könnte ...«
Sein Blick ließ sie nicht los und sie begriff, dass die fiebrige Glut darin nicht allein von Sorge rührte, sondern von seiner Entschlossenheit. Sie hatte ihn schon einmal derart eindringlich erlebt. Am Tag, an dem er sie verlassen hatte. Und jetzt verlangte er von ihr, dass sie noch jemanden zu ewigem Leben verdammte?
»Gian hat mir gesagt, er sei lieber tot als unsterblich.« Sie konnte ihrem Sohn im Augenblick nicht helfen, aber sie konnte für ihn sprechen. Das Problem war nur, dass sie selbst es genauso sah wie Gillian: Wenn es einen Weg gab, Gian zu retten, dann mussten sie nach jedem Strohhalm greifen.
Dennoch sagte sie mit gesenkter Stimme: »Du warst derjenige, der mir einen Vertrauensbruch vorgeworfen hat.«
»Ich weiß. Und mir ist auch klar, dass der Unterschied nicht groß ist: Du wolltest mich nicht gehen lassen, und jetzt will ich ihn nicht gehen lassen.« Auf seinem Gesicht zeichnete sich seine Gewissensqual ab. »Nach all den Jahren verstehe ich dich endlich. Ich hoffe nur, dass es nicht zu spät ist.«
Sie brachte ein schmerzliches Lächeln zustande. »Für zwei Menschen, die alle Zeit der Welt haben?« Sie wollte ihn küssen, schon die ganze Zeit über, aber Gians Schicksal stand wie ein Gespenst zwischen ihnen, das größere Nähe nicht zulassen wollte.
»Dann hilfst du mir?«, fragte er.
»Als müsstest du mich allen Ernstes dazu überreden.« Sie senkte den Blick, sah auf ihre aufgeschürften Knie, die blauen Flecke auf ihren Beinen. Schließlich schaute sie mit einem Ruck wieder auf, direkt in seine Augen. »Wir sind beide ein Leben
lang katastrophale Eltern gewesen. Und jetzt haben wir die Wahl: Wir können ihn sterben lassen – oder entscheiden, dass er lebt, uns dafür aber wirklich hassen wird.«
»Das nennst du eine Wahl?«
»Nein«, seufzte sie. »Natürlich nicht.«
Sie umarmten einander, und da küsste sie ihn endlich, mit all der Verzweiflung, die sie fast um den Verstand brachte, all dem Hunger nach seiner Nähe.
Aber die Gewissheit, dass Gian in Wien die Zeit davonlief, kehrte schon bald zurück. »Was hast du vor?«, fragte sie. »Im Schloss gibt es kein Gilgameschkraut mehr, ich hab damals alles
Weitere Kostenlose Bücher