Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
schlug Alarm. Keiner hatte sie beobachtet.
Ihre Hose war noch immer nass, darüber trug sie Gillians schwarzes Hemd. Auch ihr Haar war feucht, und obgleich sie sich Mühe gegeben hatte, das Blut ihrer Entführer herauszuwaschen, spürte sie, dass die Strähinen beim Trocknen schon wieder steif wurden. Beinahe bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie trotz allem daran dachte, wie angenehm es wäre, den ganzen Schmutz in einem heißen Bad vom Körper zu spülen.
Sie befanden sich in einem der unzähligen Zimmer des Palais, es war leer bis auf einen Stuhl mit drei Beinen, der vor einem verblichenen Wandfresko lag.
Die Octavians wohnten zu fünft oder sechst in diesem Haus und es war kein Wunder, dass sie nur Teile davon nutzten. Allerdings
hatten auch daheim auf Schloss Institoris zuletzt nur noch Sylvette und Charlotte gelebt, und Aura konnte sich nicht erinnern, dass es dort Räume gab, die aussahen, als befände man sich in einer Ruine.
Gillian trug eine Lampe, die er sich von der Wirtin seiner Pension ausgeliehen hatte. Er hatte behauptet, sein Motorrad sei in einer dunklen Seitengasse liegen geblieben und er brauche Licht, um es zu reparieren. Aura war oft genug in leer stehende Gebäude eingedrungen, auf der Suche nach vergessenen Bibliotheken und Sammlungen alchimistischer Schriften, und war es gewohnt, Zimmer und Flure im Dunkeln zu erkunden. Aber sie hatte Gillian von den Nestern aus Finsternis erzählt, und die Erinnerung daran hatte sie überzeugt, dass es klüger wäre, ein eigenes Licht mitzubringen.
Die Lampe war ein schweres und unförmiges Ding, und in ihrem Schein wirkten die entfärbten Wandmalereien wie Geister von Gemälden, die schon lange entfernt worden waren.
»Na dann«, flüsterte sie, »sehen wir uns um.«
»Und wenn diese Sophia nicht hier ist?«
»Dann gehen mir langsam die Ideen aus.« In Sophias Wohnung hatten sie es zuerst versucht. »Vielleicht ist sie im Variete, um die Spuren zu beseitigen, die Graugasts Männer dort hinterlassen haben. Aber es würde mich nicht wundern, wenn sich ihre einflussreichen Ophitenfreunde darum kümmern. Damit nur ja keiner die falschen Fragen stellt.«
»Wonach suchen wir also?«
»Wenn wir Sophia treffen, wird sie mir ein paar Antworten geben müssen. Wenn nicht, halten wir uns an Severin – er scheint von dieser ganzen Sippe der Gesprächigste zu sein. Bring ihn also nicht gleich um, wenn er uns über den Weg läuft.«
Er lächelte und schien froh zu sein, dass sie für einen Moment an etwas anderes denken konnte als an Gian. Aber natürlich
dachte sie trotzdem an ihn. Bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug. Und sie musste sich selbst immer wieder bewusst machen, dass sie immer noch in Prag und nicht auf dem Weg zu ihm war, weil es hier womöglich etwas gab, das ihn retten konnte.
Wenn es ihnen gelänge, Lysander anzubieten, was er suchte, konnten sie im Austausch dafür das Gilgameschkraut verlangen. Falls er welches besaß und nicht genau wie Aura alle Vorräte vernichtet hatte; falls er bereit war, sich auf solch einen Handel einzulassen; und falls es sich bei diesem Graugast überhaupt um Lysander handelte.
Aura kam ein Gedanke. »Sylvette«, murmelte sie.
Gillian warf ihr im Schein der Taschenlampe einen fragenden Blick zu.
»Lysander ist immerhin ihr Vater. Glaubst du, er hätte sich bei ihr gemeldet, falls er noch lebt?«
»Die beiden standen sich ziemlich nah«, sagte er mit einem Achselzucken. »Auf ihre Weise.«
»Und sie wollte nicht, dass er in Swanetien zurückbleibt. Er war es, der sie davon überzeugt hat, dass es für alle das Beste wäre. Ich glaube, dass er sie zuletzt aufrichtig geliebt hat, trotz allem, was geschehen ist. Aber ... nein, sie hätte das doch erwähnt.« Das klang sogar in Auras eigenen Ohren so, als wollte sie vor allem sich selbst davon überzeugen. Sylvette und sie waren im Streit auseinandergegangen, und es war nicht der erste gewesen. Außerdem war da die Tatsache, dass Sylvette in letzter Zeit begonnen hatte, ein erstaunliches Interesse für die Alchimie im Allgemeinen und die Unsterblichkeit im Besonderen zu entwickeln.
Hatte Lysander das bewirkt? Hatte er die Bindung zu ihr erneuert? Und wenn ja – war er selbst zum Schloss gereist? Hatte er einen Brief geschrieben? Oder jemand anderen geschickt?
»Darüber kannst du dir später den Kopf zerbrechen«, flüsterte
Gillian ihr zu. »Das hier ist nicht gerade der beste Ort und Zeitpunkt dafür.«
Aura nickte widerstrebend und so machten sie
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