Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
sich mit dem Ding nicht selbst aufgespießt hatte.
»Was für ein Dietrich ist das ?«
»Nicht der. Im doppelten Boden des Federhalteretuis.«
Stirnrunzelnd legte er den Zeiger beiseite und zog das Etui hervor. Aura drehte sich um und hielt ihm ihre gefesselten Hände hin.
»Hübsche Fingernägel«, bemerkte er.
»Lange Geschichte«, entgegnete sie.
Er brauchte nicht einmal eine Minute. Erst war ihre rechte Hand frei, dann die linke.
Sie küsste ihn zum Dank auf die Wange und trat ans Waschbecken. In dem halb blinden Spiegel sah sie aus, als wäre ihr Gesicht mit Schmirgelpapier bearbeitet worden. Erst jetzt begriff sie, welches Glück sie gehabt hatten, dass sie draußen niemandem begegnet waren. Sie war über und über voller Blut, ihr Haar verklebt, ihre Kleidung verkrustet und starr geworden. Sie gewöhnte sich allmählich daran, dass ihr alles wehtat, und wahrscheinlich produzierte ihr Körper genug Adrenalin, um sie noch eine Weile auf den Beinen zu halten. Trotzdem erschreckte sie ihr eigener Anblick.
Sie zog sich aus bis auf die Unterwäsche, zögerte nur einen Moment und legte auch den Rest ab; es war achtzehn Jahre her, seit sie zuletzt nackt vor ihm gestanden hatte. Sie wusch sich,
so gut das eben ging, an dem winzigen Becken, mit eiskaltem Wasser und dem einzigen Handtuch, das so dünn war wie eine Tischdecke.
Auch Gillian legte Jacke und Hose ab. Obwohl er die Männer im Wagen einen nach dem anderen aufgeschlitzt hatte, war er nicht halb so besudelt wie Aura. Manchmal vergaß sie, womit er früher seinen Lebensunterhalt bestritten hatte. Er hatte nichts verlernt.
Das Schweigen zwischen ihnen war nicht die Art von Wiedersehen, die sie sich erhofft hatte. Aber vielleicht brauchten sie beide Zeit, um sich auf die Nähe des anderen einzustellen. Es gab etwas, das er ihr zu sagen hatte, sie spürte das ganz genau, aber sie drängte ihn jetzt nicht mehr, wusch sich in aller Ruhe und sagte schließlich: »Ich brauche frische Sachen. Ich kann nicht durch die Stadt laufen und stinken wie ein Schlachthaus.«
»Wir holen dir welche aus deinem Hotel.«
Aura schüttelte den Kopf. »Die Polizei sucht nach mir.« Sie erzählte ihm vom Tod der Kaskadens und dass die Nachbarin den Polizisten mittlerweile berichtet haben dürfte, dass Aura die Wohnung der Schwestern in lautstarkem Streit verlassen hatte.
Während sie sprach, weichte sie ihre Hose ein, aber das ergab nur eine furchtbare Sauerei in dem weißen Becken, und viel sauberer fühlte sich der Stoff danach nicht an.
»Hier.« Er reichte ihr aus seiner Tasche ein schwarzes Hemd, das zu groß war, aber vorerst seinen Zweck erfüllte. In den Saum war das Emblem einer venezianischen Näherei eingestickt. Sie streifte es über und setzte sich mit nackten Beinen im Schneidersitz aufs Bett.
»Venedig, also.« Die alte Vertrautheit kehrte zurück, aber nicht so schnell, wie sie es sich wünschte.
Er schien zu erwägen, sich ihr gegenüber auf den Stuhl zu setzen, ließ sich dann aber auf der Bettkante nieder und nahm
ihre Hand. »Ich hab die letzten Jahre dort gelebt. Und wieder gearbeitet.«
»Was ist mit dem Templum Novum?« Was sie meinte, war: Was ist mit Karisma?
»Ich bin gegangen. Das ist alles.«
Sie konnte jetzt ihren Herzschlag spüren und schob es auf die Ereignisse der letzten Stunden. Wie gern hätte sie das Fiebrige in seinem Blick ignoriert und so getan, als hätte sie nichts davon bemerkt.
Er drückte ihre Hand ein wenig fester und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Aber da las sie die Wahrheit schon in seinen Augen.
»Gian?« Es klang wie ein Luftschnappen.
Er nickte.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist verwundet. Eine ... Schussverletzung.« Seine Stimme klang gequält. »Ich war nicht schnell genug. Einfach nicht schnell genug.«
Sie konnte seine Finger nicht mehr spüren, auch nicht das Bett unter sich. Wie ein Sturz im freien Fall. »Was ist passiert?«
»Ich bin von Paris nach Venedig und dann nach Wien gefahren, um —«
Ihr eigener Tonfall erschreckte sie: »Was ist Gian passiert?«
Er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenwinkel. Ein paar Sekunden lang schwieg er, dann sagte er: »Er ist mir nach Wien gefolgt. Er ist in diese Pension am Hofgarten gekommen, wo wir beide damals übernachtet haben ... Und dann tauchten Männer auf. Ich wollte, dass er sich versteckt, aber er ... Am Ende hat er den letzten von ihnen angegriffen, um mich zu retten, und das Schwein hat auf ihn geschossen ... Die Kerle sind
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